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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt
Autoren: Kilian Leypold
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und selbst die kleinsten Geräusche, das Quietschen seiner Sohlen, das leise
     Keuchen seines Atems, wurden verstärkt und hallten durch die Dunkelheit. Es kam ihm vor, als schleiche er in einer kleinen
     Blase aus Licht durch einen riesigen Betondarm.
    Wenn er stehen blieb, hörte er ein fernes Glucksen oder Schmatzen. Gleich musste die Röhre in den großen unterirdischen Kanal
     münden, durch den alles, was in der Siedlung heruntergespült wurde, in Richtung Klärwerk floss. Irgendwo hier sollte es sein.
     Jonas ging schneller.
    »Halt, Kanalpolizei!«, rief da eine schrille Stimme. Jonas fuhr herum und wurde von einer Taschenlampe geblendet.
    »Stehen bleiben oder wir feuern mit unserer Laser-Gülle-Kanone!«
    Jetzt erkannte Jonas die Stimme.
    »Mensch, Lippe«, keuchte er. »Erschreck mich doch nicht so.«
    »Du erschreckst mich, Mann, kommst hier einfach die Röhre runtergeschlichen, ohne Benutzer-ID, ohne PIN-Code. Woher soll ich
     wissen, dass du es bist?«
    »Wer denn sonst?«, fauchte Jonas. Schließlich war |13| es Lippes Idee gewesen, sich hier unten zu treffen. Überhaupt hatte Lippe ständig Ideen, eine nach der anderen und eine verrückter
     als die andere.
    »Hör doch mal auf, mir dauernd ins Gesicht zu leuchten«, sagte Jonas und hob selbst die Taschenlampe.
    Lippe kauerte vor einer Nische, direkt bevor die leere Röhre in den großen Kanal mündete. Er war genauso alt, aber größer
     als Jonas, dürr wie ein Besenstiel, mit einer hellen, fast durchsichtigen Haut und dunklen krausen Locken. Sein richtiger
     Name war Philipp, aber wegen seiner riesigen Unterlippe wurde er Lippe genannt. Zu recht, fand Jonas, denn diese Lippe war
     mindestens so auffällig wie seine eigene krumme Nase. Aber nicht deshalb waren sie Freunde. Sie mochten sich einfach.
    »Na, Nase?«, Lippe grinste schon wieder. »Was sagst du, ist doch ein prima Versteck.«
    »Zu schlechte Luft für Nasen«, sagte Jonas und grinste ebenfalls.
    »Siehst du, das hab ich mir gedacht«, sagte Lippe und zog aus seinem Rucksack zwei grüne Mundschutzmasken, wie sie Ärzte verwenden,
     wenn sie operieren. »Das hilft zwar nicht gegen den Gestank, schützt uns aber vor tödlichen Keimen, die hier überall herumschwirren
     können.« Lippes Vater arbeitete in einem Krankenhaus.
    Als sie die Dinger drübergezogen hatten, war von Nasen und Lippen nichts mehr zu sehen. Nur die Augen glänzten noch im Schein
     der Lampen. Lippe |14| hatte sogar eine Stirnlampe, die er sich wie einen Helm aus Gummistricken auf den Kopf setzen konnte.
    »Und jetzt?«, fragte Jonas. Seine Stimme klang dumpf durch die Maske.
    Lippe kniff die Augen zusammen und sah ihn scharf an.
    »Jetzt gehen wir fischen«, sagte er und stieß mit dem Fuß gegen ein Paket neben seinem Rucksack. »Du kannst dir nicht vorstellen,
     was alles ins Klo fällt. Perücken, Brillen, Eheringe, Geldbeutel, vielleicht sogar ein wasserdichtes Handy, das noch funktioniert
     …«
    Jonas konnte sich noch ganz andere Dinge vorstellen, die ins Klo fielen, aber er sagte nichts.
    Anders als Lippe behielt er seine Meinung öfter für sich. ›Bringt ja eh nichts‹, dachte er. Sein Schweigen brachte natürlich
     auch nichts, aber zumindest verschwendete er keine Energie.
    Diskussionen langweilten ihn.

[ Menü ]
    |15| Gestreifte Beute
    Kurz darauf standen sie an dem großen Kanal. Wieder auf einem der schmalen Simse, nur dass diesmal direkt neben dem Sims eine
     trübe Brühe floss. Die Farbe war in den dünnen Lichtstrahlen ihrer Lampen nicht genau auszumachen: dunkelgrünlich bis schwarzbräunlich.
    Ekelhafter als die Farbe war der Geruch: süß und stechend. Schlimmer als alle schlimmen Gerüche, die Jonas kannte, Stinkbomben
     und faulige Kartoffeln eingeschlossen. Ein Brechreiz würgte ihn. Er sah zu Lippe hinüber, aber außer einem leichten Keuchen
     war dem nichts anzumerken. Jonas versuchte, nur durch den Mund zu atmen.
    »Komm, da vorn ist eine Brücke«, sagte Lippe. »Hab ich beim Herkommen gesehen.« Dicht an die Kanalwand gepresst, wandten sie
     sich nach rechts und gingen der Fließrichtung des Abwassers entgegen.
    Die Brücke war ein schmaler Eisensteg dicht über der Kloake. Gerade breit genug für eine Person. Zum Glück gab es links und
     rechts ein Geländer. Lippes geheimnisvolles Bündel war eine Hängematte, die seine Eltern aus Mexiko mitgebracht hatten und
     die seitdem im Keller Staub ansetzte.
    »Extrem engmaschig geknüpft – perfekt geeignet |16| zum Fischen im Trüben«,
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