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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt
Autoren: Kilian Leypold
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war er nicht, er hatte einen orangefarbenen Schimmer von der nächtlichen Siedlungsbeleuchtung
     … Was der Tiger wohl als Nächstes tun würde? Er hatte sicher Hunger …
    Da traf ihn ein heftiger Stoß gegen die Schulter. »Hör zu, wenn deine große Schwester mit dir redet!« Vera hatte ihn getreten.
    Wut kroch in Jonas hoch. Da legte sich ein Arm um seine Schulter. »Die alte Pickelfratze, Tortenbacke«, flüsterte Lippe. Jonas
     musste grinsen.
    Von oben ertönte Gelächter. »Süß. Zwei Stinkbomben fliegen aufeinander. Gleich knallt’s. Los, steht auf!«
     
    Sie trotteten schweigend nebeneinanderher, bis Lippe zwischen zwei Hochhausblocks in der Dunkelheit verschwand. Er wendete
     noch einmal kurz den Kopf, schürzte seine prächtigen Lippen und legte den Finger darauf: Mund halten, nichts verraten.
    Wie gern hätte Jonas jetzt noch mit ihm geredet. Über das Unglaubliche, das dort unten war, der Tiger, der …
    |27| »Beweg dich, Muttersöhnchen.«
    Vera stieß ihn vor sich her. Wie ein Schleier schwang ihr weiter schwarzer Mantel um ihren Körper. ›Eine Braut der Finsternis‹,
     dachte Jonas, ›auf der Suche nach einem finsteren Bräutigam.‹
    Nur, welcher Irre würde sich in Vera verlieben?
     
    Langsam schlossen sich die automatischen Schiebetüren des Aufzugs. Durch den immer enger werdenden Spalt sah Jonas, wie Vera
     auf einen der vierzig Klingelknöpfe drückte und etwas in die Sprechanlage sagte – jetzt wussten seine Eltern, dass er unterwegs
     war. Keine Chance, sich noch einmal zu verdrücken, um irgendwo die stinkenden Klamotten loszuwerden.
    Wackelnd setzte sich der Aufzug in Bewegung. Jonas starrte auf den dunkelbraunen Lack der Aufzugtür. Direkt vor seiner Nase
     hatte jemand ein Herz in den Lack gekratzt, ohne Namen. Er stellte sich vor, dass dort ›Jonas‹ stünde. Das Herz glitt zur
     Seite und verschwand.
    Sechster Stock. Er war da.
    Die Flurbeleuchtung in dem düsteren Korridor ging schon seit Wochen nicht mehr. Am Ende des Korridors fiel durch eine leicht
     geöffnete Wohnungstür ein Lichtstreifen auf die Fließen. Das war Jonas’ Wohnung. Dicht an der Wand schlich er auf das Licht
     zu und lauschte. In der Küche lief der Fernseher. Wie immer um diese Zeit. Sonst war nichts zu hören. Vor der Tür schlüpfte
     Jonas aus den dreckverschmierten |28| Turnschuhen. Auch aus den Kleidern musste er so schnell wie möglich raus, bevor seine Eltern den Gestank bemerkten.
    Vorsichtig schob er sich in die Wohnung, noch vorsichtiger schloss er die Tür. Es gab ein leises, klackendes Geräusch …
    »Jonas, komm her!«, donnerte der Vater aus der Küche.
    Die Badezimmertür wurde aufgerissen und die Mutter trat mit aufgebauschten Haaren in den Flur. Sie musste gerade dabei sein,
     sich zu föhnen. Sofort rümpfte sie die Nase und verzog angewidert das Gesicht. »Wie du riechst. Du verschwindest sofort im
     Bad und wäschst dich!«
    »Zuerst kommt er in die Küche!«, brüllte der Vater.
    »Das hat Zeit!«
    »Hat es nicht!«
    Die Stimmen seiner Eltern schwangen in Jonas’ Kopf hin und her wie der Schwengel einer Glocke, mal schlug er an die eine Schläfe,
     mal an die andere. Was war hier überhaupt los? Warum stritten die beiden? Wieso hatte ihn die Mutter im Gang abgepasst? Und
     was wollte sein Vater? Hatte er am Ende bemerkt, dass in seinem Werkzeugkasten die kleine Brechstange fehlte? Wie ein Stein
     hing plötzlich der Rucksack mit der Stange an Jonas’ Schultern.
    »Du schickst ihn mir jetzt sofort rein!«, rief der Vater gerade.
    »Sobald ich mit ihm fertig bin«, rief die Mutter zurück.
    |29| Jonas tat so, als ob ihn das Geschrei nichts anginge, und schlenderte langsam auf sein Zimmer zu.
    Als er die Tür hinter sich zuzog, stritten seine Eltern immer noch.
    Er ließ den Rucksack auf den Boden gleiten und sah sich um. Viele Möglichkeiten, die Brechstange zu verstecken, gab es nicht.
     Sein Zimmer war winzig. Ein Bett, ein kleiner Tisch mit Stuhl und eine Kommode. Auf dem Boden zwischen den Möbeln lagen Comics,
     CDs und Klamotten. An der Wand hing ein Poster des größten Boxers aller Zeiten: Muhammed Ali. Triumphierend reckt er darauf
     die Fäuste in den Nachthimmel, mitten in einem Gewitterregen in Afrika, nachdem er in einem unglaublichen Kampf George Foreman
     besiegt hatte.
    ›Fight on‹, dachte Jonas, nur nicht aufgeben, schmiss die Stange ins Bett und deckte sie sorgfältig zu. Schlaf gut, Prinz
     Eisenherz.
    Wie kam er nur auf so einen Blödsinn? In seinem Kopf
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