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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt
Autoren: Kilian Leypold
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Das Wichtigste an Lippes Plan war diese Schleuse. Als er auf seinen Freund Nase
     gewartet hatte, war ihm in seiner Nische ein kleines eisernes Lenkrad aufgefallen.
     
    TOR 18
    Mechanische Nothandhabung
     
    stand daneben auf einem Blechschild.
    »Du bleibst hier und hältst einfach nur fest«, keuchte Lippe, als sie direkt vor der Schleuse angekommen waren. »Ich dreh
     an dem Rad, das Tor geht auf und das Biest wird in die leere Röhre gesaugt. Ich dreh wieder zu und wir hauen ab, so schnell
     es geht. Alles klar?«
    »Und wenn ich’s nicht halten kann?«
    »Geht ganz schnell«, sagte Lippe und verschwand in der Nische, in der er Jonas aufgelauert hatte.
    |20| Jonas blieb allein in der Dunkelheit zurück.
    Krampfhaft umklammerte er die beiden Enden der Hängematte. Er konnte fast nicht mehr. Seine Arme schmerzten. Der Gestank traf
     ihn auf einmal wie ein Schlag. Während sich ein flaues Gefühl in ihm breitmachte, malte er sich aus, was da gerade so unendlich
     schwer an seinen Armen hing, und ihm wurde noch mulmiger. Was, wenn der Tiger jetzt im Stockfinsteren mit einer Tatze nach
     ihm schlug? Wenn er neben ihm in die Scheiße plumpsen würde? Zähne würden ihn packen, noch bevor er in dem bestialischen Gestank
     das Bewusstsein verlor … Da, ein Prusten … noch mal … und dann ein Laut, den Jonas nicht erwartet hätte: ein Stöhnen. Der
     Tiger stöhnte!
    »Schneller, Lippe! Ich glaube, er säuft ab!«
    Im selben Moment hörte Jonas ein Quietschen und Knarzen, kurz darauf ein saugendes Geräusch, als würde jemand unglaublich
     laut Kakao schlürfen. Etwas zog an den Seilen in seinen Händen, Jonas versuchte sie festzuhalten, seine Oberarme zitterten,
     von Weitem hörte er Lippe schreien, verstand aber kein einziges Wort. Jonas verlor das Gleichgewicht, er stolperte, ließ die
     Hängematte los und konnte sich gerade noch auf dem Sims halten. Er sank auf den Boden. Die Dunkelheit um ihn war ein einziges
     Rauschen, Gurgeln und Platschen.
     
    Erst als Lippe um die Ecke bog und Licht auf Jonas fiel, bemerkte er, dass es wieder sehr still geworden war.
    |21| »Er ist drin«, sagte Lippe. »Wir können abhauen.«
    Jonas sagte gar nichts. Er rappelte sich auf, zog aus seiner hinteren Hosentasche die Lampe und tastete sich auf dem Sims
     zurück in die leere Röhre. Vollkommene Finsternis, kein Laut war zu hören.
    »Was machst du da?«, hörte er Lippe hinter sich. »Bist du wahnsinnig, der frisst dich!«
    »Ich will nur sehen, ob er sich verletzt hat«, sagte Jonas und schaltete die Lampe an.
    »Idiot, Idiot, Idiot«, zischte es hinter ihm.
    Ohne sich umzudrehen, wusste Jonas, dass sich Lippe mit beiden Händen in die Haare gefasst hatte und daran riss. ›Haare raufen‹
     nannte man das, hatte Lippe einmal erklärt. Früher hatten das die Leute öfter getan, wenn sie verzweifelt waren. Aber inzwischen
     war es aus der Mode gekommen, oder die Leute waren weniger verzweifelt als früher, dachte Jonas. Weil es mehr Cola, mehr Autos
     und weniger Kinder gab.
    Nach ein paar Schritten auf dem Sims richtete Jonas den Strahl seiner Taschenlampe auf den Grund der Röhre. In einer großen
     Lache brauner Brühe lag der Tiger. Er erinnerte Jonas an Fernsehbilder von Vögeln, die nach Tankerunglücken die Strände pflasterten:
     verklebt mit zäher schwarzer Pampe.
    Der Tiger war ungefähr so lang wie ein Auto und vollkommen schlaff; er sah eher tot als lebendig aus. Trotzdem ging Jonas’
     Atem schnell und flach. Vorsichtig pirschte er sich an den riesigen Leib heran. Den Schwanz konnte er gut erkennen, der Kopf
     war schon wieder vom Dunkel der Röhre verschluckt. |22| ›Nur mal sehen, ob er noch lebt‹, dachte Jonas, ging auf dem Sims in die Knie und ließ den Strahl seiner Lampe über den Tiger
     wandern. Abgesehen von der ungeheuren Größe bot sich ihm ein erbärmlicher Anblick: Wie durch den Kakao gezogen sah der Tiger
     aus, ein Kakao aus Spülwasser, Essensresten, Kot und Urin. In dem triefenden Fell hingen unzählige Papierfetzen von Klopapier,
     Taschentüchern und Küchenkrepp. Was eben so alles durch die Kloschüsseln und Spülbecken geschwemmt wird.
    Schließlich ließ er den Lichtfleck seiner Lampe zum weit entfernten Kopf des Tigers gleiten – und erstarrte. Zwei gelbe Augen
     fixierten ihn. Direkt vor Jonas begann der Schwanz des Tigers leicht zu zucken, gleichzeitig wurden die riesigen Pranken unter
     den Leib gezogen. Langsam schob der Tiger sein Hinterteil in die Höhe. Schließlich stand er.
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