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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt
Autoren: Kilian Leypold
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verkündete Lippe und sprang auf den Eisensteg.
    Jonas folgte ihm lustlos, während er darauf achtete, immer schön durch den Mund zu atmen.
    Sie packten die Hängematte aus. Jeder nahm ein Ende, den Rest warfen sie über das Geländer. Mit leisem Schmatzen verschwand
     das Netz in der trüben Soße.
    Jonas spürte das Gewicht der Hängematte und nach einiger Zeit, wie kühl es hier war. Nur von der Flüssigkeit unter ihm stieg
     Wärme auf. Still standen sie in der Dunkelheit, der Strahl von Lippes Stirnlampe tanzte als gelber Fleck auf dem Abwasser.
    Da, ein Geräusch. Ein Schnauben oder Prusten, seltsam verstärkt und verzerrt durch den Hall.
    »Psssscht! Nase, da war was«, zischte Lippe mehr aus Schreck als zur Warnung, denn natürlich hatte auch Jonas das Geräusch
     gehört.
    Mit kreisenden Kopfbewegungen suchte Lippe das Wasser ab.
    Jonas glaubte einen Strudel im Wasser zu erkennen, er wollte etwas sagen, da erbebte der Steg.
    Etwas schob sich unter ihnen durch. Etwas Großes. Gleich darauf spürten sie einen Zug auf der Hängematte in ihren Händen.
    »Wir haben etwas gefangen«, schrie Lippe. »Einen richtig fetten Batzen!« Das konnte man sagen. Das Ding war riesig. Lippe
     hatte große Mühe, die Hängematte festzuhalten, und auch Jonas brauchte beide Hände – und wie!
    |17| »Wir sollten loslassen.« Typisch Lippe! Wenn es ernst wurde, gingen ihm die Ideen aus.
    »Spinnst du, jetzt haben wir was, jetzt schauen wir auch, was es ist«, keuchte Jonas.
    »Aber es ist viel zu schwer, das kriegen wir nie raus!«
    »Dann ziehen wir es eben erst mal an den Rand.«
    Stolpernd und keuchend bugsierten die beiden Jungen ihren Fang an den Rand des Kanals und banden die Hängematte um eine der
     Geländerstangen. Endlich hatten sie die Hände frei und konnten die Lampen auf ihre Beute richten.
    Viel war nicht zu erkennen. Was da aus dem Wasser ragte, sah aus wie ein riesiger verschmierter Schädel mit spitzen Ohren;
     um das eine Ohr war eine Bahn Klopapier gewickelt. Jonas glaubte auch, so etwas wie eine Nase zu erkennen. Oder eher eine
     Schnauze?
    »Das ist ’ne Katze«, flüsterte Lippe.
    »Mann, Lippe, so große Katzen gibt es nicht«, zischte Jonas und suchte weiter nach Hinweisen auf dem braunen Klumpen.
    In diesem Moment öffnete sich hinter der Schnauze ein schmaler Schlitz und ein gelbes Auge starrte die beiden an. Gleichzeitig
     entdeckte Jonas, dass das Fell der Ohren dunkle Streifen hatte.
    Die Zeit schien langsamer zu werden und stillzustehen. Sie begann erst wieder zu fließen, als sie glaubten, was sie sahen.
    |18| Einen Tiger. Im Abwasserkanal ihrer Siedlung war ihnen ein lebender Tiger ins Netz gegangen.
    Jonas’ Gesicht glühte, gleichzeitig war ihm eiskalt.
    Lippe kauerte bewegungslos neben ihm, nur seine Unterlippe zitterte. »Wir müssen weg hier, sofort!«
    »Mensch Lippe, das, äh … das Tier da ersäuft, wenn wir es nicht rausziehen.«
    »Gute Idee, dann bekommt es auch gleich was zu fressen!«
    »Ist doch schon halb tot«, sagte Jonas, »sonst wäre es von selbst aus dem Kanal geklettert.«
    »Vielleicht ist es ja auf der Jagd«, meinte Lippe. »Da drin gibt es bestimmt fette Kanalratten.«
    »Blödsinn! Lass dir endlich mal was einfallen, wenn’s wirklich wichtig ist!«
    »Geht nicht. In meinem Kopf wirbelt alles durcheinander. Das da ist ein Tiger und der hat Hunger, weil Tiger immer Hunger
     haben.«
    »Wir könnten doch wenigstens mal versuchen, ob wir ihn rausziehen können«, sagte Jonas.
    »Ich will ihn aber nicht rausziehen.«
    »Jetzt komm schon!« Jonas packte mit beiden Händen die Hängematte und zog und zerrte, was das Zeug hielt. Ein klitzekleines
     Stück hob sich der Schädel des Tigers, bevor Jonas loslassen musste, um nicht kopfüber in den Kanal zu stürzen. »Es geht nicht,
     viel zu schwer«, keuchte er.
    »Hätte ich dir gleich sagen können. Aber ich weiß jetzt, wie’s geht. Pack noch mal mit an, wir müssen zurück. Dahin, wo wir
     uns getroffen haben.«
    |19| Sie griffen sich wieder jeder ein Ende der Hängematte und schleppten den Tiger an der Kanalwand entlang. Das war immer noch
     eine Schufterei, aber es ging, weil sie den Tiger mit der Fließrichtung zogen.
     
    Endlich kamen sie an die Abzweigung zu der Röhre, durch die Jonas vorhin gekommen war. Sie war leer, weil sie wahrscheinlich
     nur zu der riesigen Baugrube führte. Damit aber aus dem Hauptkanal nichts hineinschwappte, gab es eine Art Schleuse, eine
     eiserne Platte, die den Zufluss versperrte.
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