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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt
Autoren: Kilian Leypold
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Jonas das Band mit dem N.
    Jonas staunte. Das sah nach einer Menge Arbeit aus. Ulla musste die Buchstaben in der Nacht geschnitzt haben. Und die Bänder
     hatte er am Vormittag geflochten; Jonas erinnerte sich an etwas Grünes zwischen Ullas Fingern. Das hieß, Ulla hatte gewusst,
     dass er gehen würde und er hatte nichts gesagt. Jonas spürte einen Stich irgendwo zwischen Herz und Magen. ›Vielleicht ist
     das genau die Stelle, wo die Seele sitzt‹, dachte er kurz.
    Aber die Buchstaben waren nicht alles. In beide Halsbänder war ein rosa Wollfaden eingeflochten. Jonas erkannte sie sofort:
     Sie stammten aus dem Schal um Tante Tigers Hals. »Sie sind beide weg«, murmelte er. »Das ist ihr Abschiedsgeschenk.«
    Lippe sah ihn erstaunt an. »Sie könnten auch irgendwo hier in diesem Dschungel stecken und die Alte mit der Gabel suchen.«
    Jonas schluckte. »Ich glaube, die Alte gibt es nicht mehr.« Und er erzählte Lippe, was er gesehen hatte, bevor er eingeschlafen
     war.
    Lippes starrte vor sich hin, sein Gehirn arbeitete. »Aber da kann alles Mögliche passiert sein. Verstehst du, sie könnte über
     sie drübergesprungen sein oder durch sie hindurch oder in sie hinein.« Seine Stimme wurde etwas leiser. »Wenn Funakis ein
     Faun ist, dann könnte alles passiert sein.«
    |273| »Wenn, wenn, wenn!« Jonas spürte Zorn in sich aufsteigen. »Und wenn Funakis nur ein besoffener Klärwerksdirektor ist? Außerdem
     hat er geschlafen wie ein Toter, er schläft immer noch, was soll er da machen? Und Tante Tiger wollte nicht zurück. Verstehst
     du, Lippe, sie hat ihren alten Körper aufgefressen, damit sie nicht zurück muss in die Keunerstraße zu den Tabletten und Rückenschmerzen,
     in die Einsamkeit und alles.«
    »Na ja«, sagte Lippe. »Kann man verstehen.«
    ›Nein, nein, nein!‹, dachte Jonas. Er wollte das nicht verstehen und war verzweifelt: »Sie hat mir versprochen, nie einen
     anderen Menschen zu fressen.«
    Lippe schürzte die dicken Lippen. »Sie hat ja keinen anderen gefressen, sondern sich selbst. Ich kann mir zwar nicht vorstellen,
     dass das wirklich schmeckt, aber …«
    »Und der Tiger?«, fiel ihm Jonas ins Wort. »Ich meine den richtigen Tiger, den Ulla hierhergebracht hat?«
    »Der hat Pech gehabt«, sagte Lippe. »Genau wie Herr Teichmann.«
    »Weißt du, was der Tiger in meinem Traum gesagt hat?« Jonas streifte mit seinem Blick kurz den Knochenhaufen neben der Feuerstelle.
     »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Komisch, oder? Moral … Weißt du, was das genau ist?«
    Lippe überlegte kurz und zog dabei an seinen Haaren. »Also, wenn es nach dem Essen kommt, ist es so was Ähnliches wie Zähneputzen,
     also nichts Angenehmes.«
    |274| »Aber notwendig«, sagte Jonas.
    »Putzt du dir immer die Zähne?«
    Vielleicht war es das, dachte Jonas. Tante Tiger hatte einfach keine Lust, wieder die alte Rosa zu sein, sie wusste aber,
     dass sie ihren alten Körper nicht einfach mit einer Tigerseele herumlaufen lassen konnte, also blieb nur eine Möglichkeit
     … Jonas fielen die Teeblätter auf dem Blech in Tante Tigers Küche ein. Er wollte sie doch unbedingt noch fragen, warum sie
     die Teeblätter trocknete. Aber eigentlich war es ja egal, ob die alte Rosa in einem Menschen steckte oder in einem Tiger,
     Hauptsache, sie würde ihm mal die Sache mit dem Tee erklären. Und da war ja noch eine Frage, die Lippe und er noch nicht geklärt
     hatten, die Frage, welche Farbe …
    »Na, gut geschlafen, hübsch geträumt?« Vera stand auf einmal vor ihnen. Barfuß, in schwarzen, inzwischen wieder trockenen
     Klamotten, bleich mit dunklen Ringen unter den Augen. Sie grinste. Neben ihr stand Igor in seinem durchgeschwitzten weißen
     Hemd, mit rotem Kopf; er zwinkerte Jonas zu.
    »Lasst uns abhauen. Solange die Bestie weg ist und er noch schläft.« Vera zuckte mit dem Kinn in Richtung Sofa.
    »Wieso, was passiert denn, wenn er aufwacht?«, fragte Lippe. »Frisst er uns dann?«
    »Psssssssst!«, zischte Igor und hielt einen Finger an die Lippen. »Da kann alles passieren, nie weißt du, was er treibt. Nachts
     feiert er, aber am Tag macht er Dummheiten.«
    |275| »Hat dir der Traum nicht gereicht?«, sagte Vera. »Den hat er dir geschickt. Er weiß alles und tut schreckliche Dinge im Schlaf.«
    »Weiß er auch, welche Farbe der Tod hat?«, fragte Jonas und zwinkerte Lippe zu.
    Vera sah ihn verdutzt an, bevor sie sagte: »Der Tod hat keine Farbe, das weiß doch jeder. Er ist schwarz oder weiß. Los
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