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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt
Autoren: Kilian Leypold
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entgegen. Die Sonne brannte herunter. Die Hitze schien ein eigenes Gewicht
     zu haben, so schwer lastete sie auf Jonas. Er ließ sich neben Tante Tiger auf den Boden fallen.
    »Du hast dich mit deiner Schwester gestritten«, sagte Tante Tiger. »Ich habe es bis hierher gehört.«
    »Stimmt. Aber jetzt vertragen wir uns besser, glaub ich.«
    War das wirklich so? Oder war es nur Veras Furcht vor dem Tiger? Seinem Tiger. »Sie hat Angst vor Ihnen.« Jonas grinste.
    »Hätt ich auch«, brummte Tante Tiger und lachte grollend. »Soll ich noch mal?«
    »Was?«
    »Brüllen.«
    »Wenn Sie sich wirklich die Seele aus dem Leib brüllen können, wäre das vielleicht eine Möglichkeit.«
    Tante Tiger fixierte Jonas eine Weile, dann steckte |260| sie den Kopf in den Farn. »Weißt du, dass hier zerbrechlicher Blasenfarn wächst?« Sie schnupperte. »Er hat einen ganz eigenen
     Geruch. Ein Hauch von Urin. Fällt in einem Klärwerk nicht besonders auf, aber mit dieser Katzennase riech ich alles. Sogar
     den Achselschweiß der Schmetterlinge.« War das ein Witz oder meinte sie es ernst? Das Tigergesicht verriet wie immer nichts.
     »Und hier«, sie fuhr mit ihrer Pfote durch eine Reihe kleinerer hellgrüner Farnwedel. »Siehst du diese zartgefiederten Stängel?
     Das ist anmutiger Frauenhaarfarn. Mein Lieblingsfarn. Und da, wo wir heute Nacht gelegen haben, wuchert der borstige Schildfarn.
     Es ist ein Paradies.«
    »Nur lebensgefährlich.« Jonas ärgerte sich. »Hier läuft nämlich ein vor Wut und Hunger halb verrückter Tiger rum, der aussieht
     wie die alte Frau Ohm aus der Keunerstraße.«
    Bei diesem Namen zuckte Tante Tiger zusammen und starrte ihn mit ihren gelben Augen aus dem Farn heraus an.
    »Wo ist sie?«, fragte Jonas. »Sie können sie doch riechen.«
    »Sich selbst kann man nicht riechen, Jonas.« Tante Tiger blinzelte ihm zu. »Ist dir das noch nicht aufgefallen? Die Kleider
     deiner Mutter riechen nach deiner Mutter, aber deine eigenen riechen nach niemandem. Euch alle kann ich riechen, aber mich
     selbst, Kunigunde Ohm, rieche ich nicht.«
    »Aber Sie sind nicht mehr Frau Ohm.«
    »Oh doch«, knurrte Tante Tiger. »Ich stecke nur in |261| einer anderen Haut, wie ein Buch, das neu gebunden wird. Der Einband ist neu und anders, aber es steht immer noch genau dieselbe
     Geschichte drin. Und diese Geschichte, das sind die Erinnerungen an mein Leben als Kunigunde Ohm, auch an die Gerüche aus
     diesem Leben.«
    »Aber dann müssen Sie sie doch wenigstens hören! Sie keucht und hinkt«, rief Jonas.
    Tante Tiger drehte die Ohren. »Deine Schwester schleicht sich die Wand entlang zu ihrem Freund, der leise schmatzt. Philipp
     steht gerade von seinem Stuhl auf, Funakis schnauft wie ein Walross und Ulla summt vor sich hin … Sonst ist kein Mensch zu
     hören, auch kein Tiger.«
    Sie schwiegen und plötzlich wurde Jonas klar, dass die Blasengeräusche des großen Beckens verschwunden waren.
    »Es hat aufgehört«, murmelte Jonas. »Wie gestern Nacht.«
    »Wie jede Viertelstunde«, brummte Tante Tiger. »Funakis hat mir verraten, dass da drin Bakterien leben, die sich nur von Luft
     und Kot ernähren. Deswegen blasen sie immer eine Viertelstunde lang Luft in das Becken, dann ist wieder eine Viertelstunde
     Pause.«
    Jonas sah auf die jetzt spiegelglatte braune Fläche. Dann hatte er letzte Nacht einfach Glück gehabt, dass genau in dem Moment,
     als er die Leine seiner Schwimmweste zog, die Viertelstunde zu Ende gewesen war.
    |262| »Werkschutz! Haben Sie einen Betrachtungsschein für das Belebungsbecken zwei? Nein? Dann müssen wir Sie leider einer biologischen
     Reinigung unterziehen.« Lippe stand vor ihnen.
    Und jetzt entdeckte auch Jonas das gelbe Schild auf dem Beckenrand:
     
    BELEBUNGSBECKEN 2
    Biologische Reinigungsstufe
     
    »Hast du Hunger?« Lippe hielt Jonas dunkelrote Weintrauben vors Gesicht. Jonas griff zu, er hatte vor allem Durst. Die Trauben
     schmeckten süß und saftig, die besten, die er je gegessen hatte.
    Plötzlich blendete ihn etwas. Das Stahlgehäuse seiner Armbanduhr. Jonas zuckte zusammen; es war schon halb zwölf.
    »Wir müssen Funakis wecken«, rief er. »Er verschläft alles.«
    »Den kriegst du nicht wach«, sagte Lippe. »Außer Tante Tiger brüllt ihm ins Ohr oder, noch besser, beißt rein.«
    Tante Tiger riss das Maul auf, sodass ihr fürchterliches Gebiss kurz aufleuchtete, hielt aber sofort die Pranke davor. »Jetzt
     machen wir erst mal ein Nickerchen und dann sehen wir weiter«,
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