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Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
Autoren: Margaux Fragoso
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ein kleines Kind. Als er stehenblieb, war die Welt aus dem Gleichgewicht geraten, und ein seltsames weißes Licht umstrahlte sein Gesicht wie eine Korona.
    ***
    Als die Bademeister später alle Besucher aus dem Becken riefen, um das Schwimmbad zu schließen, stellte uns der Vater, der Peter hieß, eine niedliche Latina namens Inès vor, die die ganze Zeit im flachen Abschnitt des Beckens herumgewatet war. Peter neckte sie, weil sie sich immer nah am Beckenrand hielt, und scherzte mit meiner Mutter und mir, Inès habe Angst vor Dingen, über die sich niemand sonst Gedanken mache, beispielsweise Karussell oder Fahrrad fahren. Sie hatte ein seltsam schönes Gesicht mit schläfrigen Augen inmitten von Sonnenfalten, lange Locken, die am Ansatz dunkel und weiter unten in einem Apricotton gefärbt waren, dazu den sanften, verwirrten Blick eines wilden Rehkitzes. Inès hatte an den Fingern violette künstliche Nägel, zwei waren abgebrochen, auf den übrigen waren kleine schwarze Peace-Zeichen gemalt.
    Peter stellte uns alle mit Namen vor: Der ältere Junge, Miguel, schien um die zwölf oder dreizehn zu sein, der jüngere, Ricky, nur ein paar Jahre älter als ich. Am Ende des Tages hatte ich alle Namen vergessen und erinnerte mich nur noch an die Anfangsbuchstaben der Eltern: P und I. Immer wieder musste ich an sie denken, an P und I und an ihr Versprechen, meine Mutter und mich zu sich einzuladen. Doch als die Zeit verging, ohne dass sich etwas tat, vergaß ich sie wieder.
    ***
    Ich hätte sie für immer vergessen, wenn da nicht dieser vage Eindruck von Freude gewesen wäre, den der Nachmittag bei mir hinterlassen hatte. Wir saßen in Poppas 1979er Chevy , als Mommy sagte, sie hätten angerufen beziehungsweise Peter hätte sich gemeldet.
    »Sie haben uns zu sich nach Hause eingeladen. Ist das nicht nett?« Als Poppa schwieg, fuhr sie fort: »Peter und Inès. Und die Jungen, Ricky und Miguel. Miguel und Ricky. Ganz nette Jungen. Gut erzogen, überhaupt nicht grob. Eine nette Familie.«
    »In ihr Haus? Ist das in der Nähe?«
    »Nicht weit weg. Am Telefon sagte Peter, in Weehawken, da wo es an Union City grenzt. Ich wollte dir nur Bescheid sagen. Was du davon hältst.«
    »Wovon?«
    »Dass wir dahin gehen. Am Freitag, wenn du arbeiten bist.«
    »Ist mir egal.«
    »Gut, ich dachte nur, ich sag dir Bescheid.«
    »Ist mir egal. Das sind ja wohl keine Gewaltverbrecher, oder?«
    »Das ist eine sehr nette Familie. Sehr nette Leute. Eine liebe Familie.«
    »Bei dir sind immer alle nett. Alle sind so nett. Alle sind so lieb.«
    »Dann ist das abgemacht«, sagte Mommy. »Freitagmittag.«

2
    Das zweistöckige Haus
    Vor dem Zweifamilienhaus standen ein zweistöckiger weißer Brunnen und drei große Kunstharzfiguren: ein rosa Bär, ein schwarzer Labrador mit Flügeln und eine Meerjungfrau. Der Bär war halb in Efeu versunken. Die seltsamen dunklen Blätter wanden sich bereits um den prallen Schwanz der Meerjungfrau, krochen seitlich am Haus empor, verschluckten die gesprungenen violetten Schindeln wie der Bartwuchs eines Wilden; aus den Efeubüscheln am Boden sprossen hohe rote und rosafarbene Rosen. An einem Mast hing eine zerschlissene rot-gelbe spanische Flagge, rechts und links der Fußmatte standen Blumentöpfe. Meine Mutter drückte auf eine Klingel, die an Drähten aus dem Rahmen heraushing. Als nichts geschah, machte sie Gebrauch von einem schweren goldfarbenen Türklopfer.
    Zuerst konnte ich den geschmeidigen schlanken Mann, der uns die Treppe hinaufführte, nicht mit dem Vater aus dem Schwimmbad in Verbindung bringen. Der Anweisung meiner Mutter gehorchend, klammerte ich mich an das Mahagonigeländer. Sie hatte mich gewarnt, die Wendeltreppe sei »vertrackt«. Einmal rutschte ich fast aus, weil ich mich zu sehr auf die Wandbemalung konzentrierte, ein Band aus goldenen Schlüsseln, die nach oben hin immer größer wurden und so den Eindruck vermittelten, mit dem Betrachter das Treppenhaus emporzusteigen.
    »Diese Treppe bringt mich noch um«, sagte der Mann und hielt sich den Rücken. »Ich würde lieber in der Wohnung im Erdgeschoss wohnen. Aber die ist zu klein für uns. Außerdem ist sie in keinem guten Zustand. Momentan kann ich sie nicht mal vermieten. Ich will sie schon länger renovieren, aber oben ist auch so viel zu tun. Werdet ihr gleich seh’n.«
    Im Treppenhaus hing ein Spiegel, meine Mutter erkundigte sich danach. Der Mann sagte: »Der ist von American Girandole , mit dem Adler der Unionisten obenauf. Ich sprühe
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