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Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
Autoren: Margaux Fragoso
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Richtige. Ein Kind soll nicht zu dünn sein, sonst glauben die Leute, man würde ihm nicht genug zu essen geben. Aber ein kleines Mädchen soll auch nicht älter aussehen, als es ist. Deshalb sollen Mädchen nicht zu viel Steak und Schweinefleisch essen. Fisch ist in Ordnung. Jungen hingegen müssen groß und stark werden. Söhnen, denen gibt man viel Schweinefleisch. Vielleicht gebt ihr eurem ein bisschen zu viel davon.« Poppa grinste; er konnte andere beleidigen, ohne dass sie ihm böse waren. »Ich selbst, ich esse gerne Salat. Ich esse oft Pistazien und hin und wieder eine Papaya. Vitamin A. Ich sage nicht, dass euer Sohn dick ist. Ich sage nur, dass er sich leisten könnte, ein paar Pfund abzunehmen. Ich hoffe, ihr versteht mich nicht falsch. Ich sage meinen Freunden immer die Wahrheit. Aber er ist ein kräftiger Bursche, ein gesunder Kerl, ein hübscher Junge!«
    Jeff beugte sich zu mir herüber, flüsterte: »Hühnerbein, Hühnerbein!« und machte dazu gackernde Geräusche.
    »Hör auf!«
    »Gack, gack!« Er bewegte die Arme auf und ab. »Du läufst genau wie ein Huhn! Gack, gack! Gack, gack!«
    Hühnerbeine waren mir egal, doch als er sagte, ich würde wie ein Huhn laufen, schlug ich ihm ins Gesicht. »Halt die Klappe, du Fettsack! Hau ab und fahr zur Hölle!«
    Alle schauten mich an, und als Maria meinen Blick sah, wandte sie sich ab.
    Poppa grinste breit und sagte: »Hütet euch vor meiner Tochter, Jungs!«
    »Louie!«, rief Mommy. »Lob sie nicht auch noch dafür!«
    Eine Wespe flog Mommy ins Gesicht, und Jeff wollte den Helden spielen und das Insekt mit einem Stock verscheuchen. Er erwischte es und schlug mit lautem Geheul auf die übrigen Wespen ein. Da gingen sie zum Angriff über, und Jeff ließ den Stock fallen. Die Erwachsenen schrien auf, und die gereizten Tiere stürzten sich auf uns alle. Ich hatte Wespen auf dem Kopf, den Armen, Händen, auf der Brust. Poppa sah mir in die Augen und sagte: »Beweg dich nicht, Keesy, beweg dich nicht, sonst stechen sie dich.« Ich spürte ihre winzigen schwarzen Beinchen, ihre zarten Härchen. Und gehorchte. Poppa und ich waren die einzigen, die an jenem Tag nicht gestochen wurden.
    ***
    In den ersten sieben Jahren meines Lebens wohnte ich mit meinen Eltern in einem Mietshaus aus orangefarbenem Backstein auf der 32nd Street. Unsere kleine Wohnung wurde von Kakerlaken heimgesucht, die Poppa einfach nicht loswurde, obschon er sich mit Sprühdosen voll Insektenvernichtungsmittel bewaffnete. »Die kommen aus den anderen Wohnungen rüber. Kriechen unter den Türen durch. Die Leute in diesem Haus sind verwahrlost. In diesem Stadtteil leben nur Verwahrloste. Weiter draußen in Union City ist es besser. Hier gibt es nur Drogensüchtige und Wilde. Ich kann’s nicht erwarten, hier endlich wegzukommen.«
    Poppa hasste Graffiti, Feuerleitern, zugemüllte Brachflächen, das Pfeifen und Zischen von Jugendlichen, er hasste Ghettoblaster und den Unrat, den die Menschen überall herumliegen ließen. Aber er ging gerne ein paar Häuserblocks weiter zur Bergenline Avenue, um sich dort einen Espresso und ein gebuttertes Brötchen zu holen (kleine Stückchen davon stopfte er mir in den Mund, ich durfte sogar an seinem Espresso nippen). Es gefiel ihm, dass dort fast nur Spanisch gesprochen wurde, weil es für ihn unglaublich demütigend war, auch nur ein einziges englisches Wort falsch auszusprechen, wenn er Essen bestellte. Als er meine Mutter kennenlernte, zog sie ihn einmal damit auf, dass er das Wort »shoes« wie »tschuus« aussprach. Den Rest des Tages redete er nicht mehr mit ihr.
    Poppa ermutigte meine Mutter und mich nie, Spanisch zu lernen, was ihrer Meinung nach Absicht war. Er wollte nicht, dass wir seine Telefongespräche mithören konnten. Das nahm ich ihm übel. Kein Spanisch zu können bedeutete, dass man in den meisten Geschäften nichts lesen und in den ortsansässigen Restaurants und Bodegas nichts bestellen konnte. In Union City glaubten die Leute wegen meines hellen Teints meistens, ich käme aus Kuba oder Spanien, niemand hielt mich für eine halbe Puertoricanerin. Meine Mutter hatte norwegische, schwedische und japanische Vorfahren. Ich hatte dunkle Augen, angeblich von meinem halbjapanischen Großvater, ein herzförmiges Gesicht, üppige Lippen und glattes dunkelbraunes Haar.
    Als ich klein war, schlug ich im Bus oder auf der Straße oft nach wildfremden Frauen, was nach Ansicht meiner Mutter darauf zurückzuführen war, dass ich miterlebt hatte, wie sie von
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