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Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
Autoren: Margaux Fragoso
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gestraft zu sein: mit einer kranken Ehefrau und einem wilden Tier von Tochter. Oft wünschte ich mir, er würde auf Spanisch fluchen, damit wir nicht verstünden, was er sagte.
    ***
    In dem Sommer, als ich sieben wurde, wohnten wir immer noch auf der 32nd Street. Von dort aus musste ich zum Schwimmbad auf der 45th Street mehrere Häuserblocks weit laufen. Das Wasser war nur rund einen Meter zwanzig tief und stark gechlort, tote Insekten schwammen auf der Oberfläche. Ältere Kinder nannten das Schwimmbad »Pisspool«. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich zu diesem Namen beitrug – unauffällig ließ ich mich an den blauen Rand treiben und sah mich vorsichtig um, ob mich auch niemand dabei beobachtete.
    Das Wasser war von einem weiten, klaren hellen Blau, das sich ausdehnte, um meinen hineintauchenden nassen Körper aufzunehmen, meinen Körper mit seinen geballten Fäusten und den aneinandergedrückten Füßen und Beinen, angespannt wie zu einer langen Flosse, mit meinen zusammengepressten Lippen, die die Luft in mir hielten wie eine zugeschnappte Geldbörse, ich, die Meerjungfrau, der Goldfisch, der Delfin, mein schwereloses Ich. Wenn ich wieder aufstieg und mit dem Kopf durch die Wasseroberfläche brach, um die Luft in mir aufzunehmen, spürte ich, wie mein Kopf leicht vor Wohlgefühl wurde. Kurz darauf schaute ich zu meiner Mutter hinüber, die mit dem um Hals und Schultern geschnallten großen schwarzen Portemonnaie dasaß. Aus Angst vor Dieben legte sie es nie ab. Wenn mir meine selbsterdachten Spiele langweilig wurden, stellte ich mich manchmal in die Mitte des Beckens und schaute mich um. Wenn ich das tat – innehalten und mich umsehen –, dann war es, als würden alle Menschen – Kindergruppen, Mütter, die ihre Babys in Gummitieren schaukelten, Kleinkinder mit Schwimmflügeln um die Arme, Jungen, die am Tauchverbotsschild tauchten – wie aus dem Nichts Gestalt annehmen. Plötzlich überfielen mich die Geräusche, das Spritzen, Schreien, Pfeifen, das Zwitschern der Vögel und Brummen der Autos hinter dem grünen Lattenzaun.
    An dem Tag, als ich Peter kennenlernte, sah ich zwei Jungen mit ihrem Vater am anderen Ende des Beckens ringen, planschen, lachen. Einer der Jungen war sehr hübsch. Er war der kleinere von beiden, ungefähr neun oder zehn Jahre alt, dünn, lange braune Locken. Er sah nicht einfach nur süß aus, er strahlte Glück aus. Sein Gesicht und seine Haut leuchteten irgendwie, seine Beine, Arme und Hände besaßen eine zartgliedrige Beweglichkeit, in seinen Augen und seinem Gesichtsausdruck lag eine für einen Jungen seltene Sensibilität. Sein älterer Bruder war wohl auch glücklich, aber nicht mit derselben Lebendigkeit.
    Ihr Vater hatte silbrig-sandfarbenes Haar mit einem Pony wie die Beatles . Er hatte volle Lippen, eine lange, spitze Nase, die bei einem anderen abstoßend ausgesehen hätte, bei ihm jedoch nicht, und ein kräftiges, vorspringendes Kinn. Als er in meine Richtung blickte, sah ich, dass seine Augen aquamarinblau strahlten. Er lächelte mich an, sein Gesicht voller Falten: auf der Stirn, um die Augen, am Kinn. Ich wusste, dass er alt war mit den Falten, dem ergrauenden Haar und der lockeren Haut am Hals, doch er besaß so viel Schwung und Energie, dass er nicht alt wirkte. Er erschien nicht einmal erwachsen in dem Sinne, in dem Erwachsene sich normalerweise von Kindern unterscheiden. Kinder spüren die Distanz zwischen sich und Erwachsenen instinktiv, genau wie Hunde wissen, dass sie keine Menschen sind, und selbst wenn Erwachsene bei Kinderspielen mitmachen, weiß man doch immer, dass sie anders sind. Ich glaube, Peter hätte sich in eine Reihe mit hundert Männern von ähnlicher Statur und ähnlichen äußeren Merkmalen stellen können, ich wäre trotzdem zu ihm gegangen und hätte gefragt: »Kann ich mit dir spielen?«
    Ich durchquerte das gesamte Becken und stellte ihm genau diese Frage. Er erwiderte: »Natürlich« und spritzte mir sofort Wasser ins Gesicht, tollte mit mir herum, als sei ich eins seiner Kinder. Ich bespritzte die Jungen und sie mich, denn sie schienen nichts dagegen zu haben, mit jemandem zu spielen, der so viel jünger war und dazu noch ein Mädchen. Irgendwann tauchte mich der hübsche Junge vorsichtig unter, und als ich wieder hochkam, prustete ich so heftig los, dass ich einen Moment lang nichts außer meinem eigenen Lachen hörte. Dann schnappte mich der Vater, klemmte mich unter seinen Arm, schleuderte mich herum und freute sich dabei wie
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