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Tierische Profite: Commissario Brunnetis einundzwanzigster Fall (German Edition)

Tierische Profite: Commissario Brunnetis einundzwanzigster Fall (German Edition)

Titel: Tierische Profite: Commissario Brunnetis einundzwanzigster Fall (German Edition)
Autoren: Donna Leon
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einfallen.« Dass seine Erinnerung ihn bei etwas so Ungewöhnlichem wie der Erscheinung dieses Mannes im Stich ließ, beunruhigte Brunetti mehr, als er zugeben wollte. Hatte er ihn auf einem Foto gesehen, in einer Verbrecherkartei, in einer Zeitschrift, in einem Buch? Vor einigen Jahren hatte er in Lombrosos abscheulichem Buch geblättert: Erinnerte ihn dieser Mann vielleicht nur an die dort abgedruckten Konterfeis »geborener Verbrecher«?
    Aber die Lombroso-Porträts waren in Schwarzweiß gewesen: Hätte man da helle und dunkle Augen unterscheiden können? Brunetti forschte in seinem Gedächtnis nach dem Bild, das dort gespeichert sein musste, und starrte hilfesuchend die Wand an. Aber es kam nichts, keine Erinnerung an einen Mann mit blauen Augen, weder an diesen noch an irgendeinen anderen.
    Stattdessen stieg ungerufen und äußerst beklemmend das Bild seiner Mutter in ihm auf, wie sie zusammengesunken im Sessel saß und ihn mit leeren Augen anstarrte, die ihn nicht mehr erkannten.
    »Guido?«, hörte er jemanden sagen und blickte, als er aufsah, in Rizzardis vertrautes Gesicht.
    »Alles in Ordnung?«
    Brunetti zwang sich zu einem Lächeln. »Ja«, sagte er, »ich versuche nur, mich zu erinnern, wo ich ihn gesehen haben könnte.«
    »Denk eine Weile nicht daran, dann kommt es meist von selbst«, schlug Rizzardi vor. »Passiert mir ständig. Wenn mir irgendein Name nicht einfällt, gehe ich das Alphabet durch – A, B, C –, und wenn ich auf den Anfangsbuchstaben stoße, ist der Name plötzlich wieder da.«
    »Ist daran das Alter schuld?«, fragte Brunetti betont gleichgültig.
    »Das will ich doch hoffen«, antwortete Rizzardi leichthin. »Während des Studiums hatte ich ein erstaunliches Gedächtnis – ohne ist das gar nicht zu schaffen: Alle diese Knochen, diese Nerven, die Muskeln…«
    »Die Krankheiten«, ergänzte Brunetti.
    »Ja, die auch. Allein sämtliche einzelnen Teile hiervon zu behalten«, sagte der Pathologe und strich mit den Handrücken an seinem Körper hinunter, »ist schon eine großartige Leistung.« Und nachdenklicher: »Aber was sich da drinnen abspielt, das ist ein Wunder.«
    »Ein Wunder?«, fragte Brunetti.
    »Sozusagen«, meinte Rizzardi. »Etwas Wunderbares.« Er sah Brunetti an und ergänzte nachdenklich, wie es nur unter Freunden möglich ist: »Findest du nicht auch, dass die alltäglichsten Dinge, die wir tun – ein Glas hochheben, die Schuhe schnüren, ein Liedchen pfeifen –, kleine Wunder sind?«
    »Warum tust du dann, was du tust?« Brunetti war selbst von seiner Frage überrascht.
    »Was meinst du damit?«, fragte Rizzardi. »Ich verstehe nicht.«
    »Dich Menschen widmen, nachdem die Wunder vorbei sind.« Brunetti wusste nicht, wie er es sonst sagen sollte.
    Rizzardi überlegte lange, bevor er antwortete. »So habe ich das noch nie betrachtet.« Er senkte den Blick auf seine Hände, drehte sie um und studierte die Handflächen. »Vielleicht, weil meine Tätigkeit mir verdeutlicht, wie das alles funktioniert – das, was die Wunder möglich macht.«
    Als sei er plötzlich verunsichert, presste Rizzardi die Hände zusammen und sagte: »Nach Auskunft der Männer, die ihn gebracht haben, hatte er keine Papiere bei sich. Keinen Ausweis. Nichts.«
    »Und seine Kleidung?«
    Rizzardi zuckte die Achseln. »Die Toten kommen unbekleidet hier rein. Deine Leute müssen die Sachen ins Labor gebracht haben.«
    Brunettis Brummen klang nach Zustimmung, Verständnis oder vielleicht auch einem Dank. »Ich geh gleich rüber und seh mal nach. Angeblich haben sie ihn gegen sechs gefunden.«
    Rizzardi schüttelte den Kopf. »Davon weiß ich nichts, nur dass er heute der Erste war.«
    Überrascht – schließlich waren sie in Venedig – fragte Brunetti: »Wie viele sind denn noch gekommen?«
    Rizzardi wies mit dem Kinn auf die zwei verdeckten Gestalten am anderen Ende des Raums. »Die zwei alten Leute da.«
    »Wie alt?«
    »Der Sohn sagt, sein Vater war dreiundneunzig, seine Mutter neunzig.«
    »Was ist passiert?«, fragte Brunetti. Er hatte am Morgen die Zeitungen gelesen, aber da war von diesen beiden Todesfällen nicht die Rede gewesen.
    »Einer der beiden hat gestern Abend Kaffee gemacht. Der Topf stand noch in der Spüle. Die Flamme war erloschen, aber das Gas strömte noch aus.« Rizzardi fügte hinzu: »Es war ein alter Herd, einer, den man mit einem Streichholz zündet.«
    Bevor Brunetti etwas dazu sagen konnte, fuhr der Pathologe fort: »Der Nachbar über ihnen hat Gasgeruch bemerkt und
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