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Tierische Profite: Commissario Brunnetis einundzwanzigster Fall (German Edition)

Tierische Profite: Commissario Brunnetis einundzwanzigster Fall (German Edition)

Titel: Tierische Profite: Commissario Brunnetis einundzwanzigster Fall (German Edition)
Autoren: Donna Leon
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Klaren: Ängste wäre zu viel gesagt, denn letztlich glaubte er selber nie ganz, dass er wirklich krank war.
    Mit Banalitäten wie Herzleiden oder Grippe gab seine Phantasie sich nicht ab, sie bevorzugte West-Nil-Fieber oder Hirnhautentzündung. Oder Malaria. Diabetes, zwar in seiner Familie unbekannt, befiel ihn häufig. Im Grunde wusste er, dass diese Krankheiten als Blitzableiter dienten, um nur ja nicht in jeder noch so vorübergehenden Gedächtnisstörung ein erstes Anzeichen dafür zu sehen, wovor er sich wirklich fürchtete. Besser, eine Nacht lang den bizarren Symptomen des Dengue-Fiebers nachzuspüren, als in Panik zu geraten, wenn ihm die Nummer von Vianellos telefonino nicht gleich einfiel.
    Brunetti konzentrierte sich auf den Mann mit dem Stiernacken: So nannte er ihn vorläufig. Blaue Augen – das hatte er gewusst, und die einzige Erklärung dafür war, dass er ihn selbst oder ein Foto von ihm schon mal gesehen hatte.
    Die Gedanken auf Autopilot, schlug Brunetti den Weg zur Questura ein. Während er den Rio di S. Giovanni überquerte, suchte er das Wasser nach Spuren der Algen ab, die in den letzten Jahren immer weiter in die Stadt vorgedrungen waren. Ein Blick auf den Stadtplan in seinem Kopf sagte ihm, dass sie, wenn es so weit war, den Rio dei Greci heraufkommen würden. Von dem Zeug schwappte mehr als genug an die Riva degli Schiavoni: Es brauchte keine besonders starke Flut, um die Algen in die Eingeweide der Stadt zu drücken.
    Und dann sah er die aufdringlichen Schwaden mit der steigenden Flut auf sich zuströmen. Er erinnerte sich an die plattnasigen Baggerboote, die vor einem Jahrzehnt in der laguna herumtuckerten und sich an den riesigen Algenteppichen gütlich taten. Wo waren sie hin, was taten sie jetzt, diese seltsamen, lächerlich mickrigen, aber ach so nützlich gefräßigen Boote? Als er vorige Woche über den Eisenbahndamm nach Venedig fuhr, hatte er links und rechts gewaltige Algeninseln treiben sehen. Boote umfuhren sie; Vögel mieden sie; nichts konnte darunter überleben. Fiel das sonst niemandem auf, oder wurde erwartet, dass alle die Augen davor verschlossen? Oder war die Zuständigkeit für die Gewässer der laguna auf konkurrierende Behörden verteilt – Stadt, Region, Provinz, Magistrato alle Acque –, deren Zuständigkeiten so fest ineinander verkeilt waren, dass sie sich nicht mehr rühren konnten?
    Brunettis Gedanken schweiften im Gehen, wohin sie wollten. Wenn er früher Leuten begegnet war, die er schon mal gesehen hatte, hatte er sie gelegentlich wiedererkannt, ohne sich zu erinnern, wer genau sie waren. Oft gesellte sich zu diesem Wiedererkennen der äußeren Erscheinung die Erinnerung an eine emotionale Aura – er fand keinen besseren Ausdruck dafür. Er wusste, dass sie ihm sympathisch oder unsympathisch waren, auch wenn die Gründe für dieses Gefühl ihm ebenso wie ihre Namen längst entfallen waren.
    Der Anblick des Mannes mit dem Hals – er musste aufhören, ihn so zu nennen – hatte Brunetti beunruhigt, denn mit der Erinnerung an seine Augenfarbe hatte sich keine Aura eingestellt, nur so etwas wie der Wunsch, ihm zu helfen. Aber so kam er nicht weiter. Der Ort, an dem er den Mann soeben gesehen hatte, ließ keinen Zweifel daran, dass entweder jemand ihm nicht geholfen hatte oder aber er selbst sich nicht zu helfen gewusst hatte. Doch was seinen Beschützerinstinkt geweckt hatte – sein Anblick oder das Gefühl, ihn zu kennen –, das ließ sich nicht mehr rekonstruieren.
    Immer noch in Gedanken, gelangte er in die Questura und nahm die Treppe zu seinem Büro. Auf dem letzten Absatz machte er kehrt und ging in den Bereitschaftsraum. Pucetti saß am Computer, den Blick auf den Bildschirm geheftet, während seine Finger über die Tasten flogen. Brunetti blieb in der Tür stehen. Pucetti hätte sich ebenso gut auf einem anderen Planeten befinden können, so wenig nahm er seine Umgebung wahr.
    Brunetti beobachtete, wie Pucetti sich verkrampfte und immer heftiger atmete. Der junge Polizist begann vor sich hin zu murmeln, vielleicht sprach er auch mit dem Computer. Und plötzlich entspannte sich erst seine Miene, dann sein Körper. Er nahm die Hände von der Tastatur, starrte noch kurz den Bildschirm an, dann hob er die rechte Hand und stach mit ausgestrecktem Zeigefinger auf eine Taste – wie ein Jazzpianist, der den letzten Ton anschlägt und weiß, jetzt gerät das Publikum in Ekstase.
    Pucettis Hand sprang von den Tasten zurück und blieb selbstvergessen neben
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