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Pfand der Leidenschaft

Titel: Pfand der Leidenschaft
Autoren: Lisa Kleypas
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Erstes Kapitel
    London 1848
Herbst
     
    Eine Person in einer Stadt mit nahezu zwei Millionen Einwohnern zu finden, stellte eine bemerkenswerte Herausforderung dar. Es half jedoch, wenn das Verhalten dieser Person vorhersehbar war und sie sich normalerweise in einer Taverne oder heruntergekommenen Spelunke aufhielt. Dennoch war die Aufgabe nicht leicht.
    Leo, wo bist du? , fragte sich Miss Amelia Hathaway verzweifelt, während die Wagenräder der Kutsche über das holprige Kopfsteinpflaster ratterten. Der arme, verstörte, traurige Leo. Einige Menschen, denen schreckliche Dinge widerfuhren, gingen einfach daran … zugrunde. Und genau das war der Fall mit ihrem ehemals wundervollen und verlässlichen Bruder. Zu diesem Zeitpunkt gab es für ihn wohl keinerlei Hoffnung mehr.
    »Wir werden ihn finden«, sagte Amelia mit gespielter Zuversicht und warf einen Blick auf den Zigeuner, der neben ihr saß. Wie gewöhnlich war Merripens Miene ausdruckslos.
    Es war nicht verwunderlich, wenn Außenstehende annahmen, dass Merripen bar jeder Gefühle war. Er war tatsächlich derart verschlossen, dass er selbst nach fünfzehn Jahren, die er nun schon bei der Familie Hathaway lebte, niemandem seinen Vornamen verraten hatte. Seit dem Tag, an dem sie ihn übel zugerichtet und bewusstlos neben einem Bach auf ihrem
Grundstück gefunden hatten, war er für sie immer nur Merripen gewesen.
    Als der Junge damals erwacht war und sich von lauter neugierigen Hathaways umgeben sah, hatte er wild um sich geschlagen. Nur mit vereinten Kräften war es ihnen gelungen, ihn im Bett festzuhalten. Sie alle hatten ihn gewarnt, dass seine Verletzungen schlimmer würden, wenn er nicht stillläge. Amelias Vater war zu der Schlussfolgerung gekommen, dass der Junge der Überlebende einer Zigeunerjagd sein musste, einem grausamen Zeitvertreib, bei dem ortsansässige Gutsbesitzer mit Gewehren und Schlagstöcken ausritten, um ihr Land von Zigeunern zu befreien.
    »Der Junge ist wohl zum Sterben zurückgelassen worden«, hatte Mr. Hathaway mit ernster Stimme verkündet. Als Gelehrter und fortschrittlicher Gentleman missbilligte er jegliche Form von Gewalt. »Ich fürchte, es wird schwierig werden, seine Sippe zu finden. Sie sind wahrscheinlich längst weitergezogen.«
    »Dürfen wir ihn behalten, Papa?«, hatte Amelias jüngere Schwester Poppy erwartungsvoll gefragt, zweifellos in der Hoffnung, der unzivilisierte Junge – der die Zähne wie ein in der Falle sitzender Wolf gefletscht und wütend gefaucht hatte – sei eine Art neues Haustier.
    Mr. Hathaway hatte sie nachsichtig angelächelt. »Er darf so lange bleiben, wie er möchte. Aber ich bezweifle, dass er es länger als eine Woche aushalten wird. Zigeuner – oder Roma, wie sie sich nennen – sind ein fahrendes Volk. Ihnen missfällt es, immer dasselbe Dach über dem Kopf zu haben. Sie beschleicht dann das Gefühl, eingesperrt zu sein.«

    Merripen jedoch war geblieben. Anfangs war er ein sehr kleiner, schmächtiger Junge gewesen, doch in der richtigen Obhut und mit regelmäßigen Mahlzeiten war er in beinahe erschreckender Geschwindigkeit zu einem kräftigen und starken Jüngling herangewachsen. Es war schwer zu sagen, was genau Merripen war: kein echtes Familienmitglied, aber auch kein Diener. Obwohl er bei den Hathaways unterschiedliche Aufgaben übernahm, Kutscher, Lakai und Botenjunge in einer Person war, aß er am Familientisch mit, wann immer es ihm beliebte, und besaß ein Schlafzimmer im Haupthaus des Anwesens.
    Nun, da Leo vermisst wurde und womöglich in Gefahr schwebte, war es selbstverständlich, dass Merripen bei der Suche half.
    Es war zwar unschicklich, dass Amelia allein in Begleitung eines Mannes in die Öffentlichkeit ging. Doch im reifen Alter von sechsundzwanzig war Amelia überzeugt, ohne eine Anstandsdame auszukommen.
    »Wir beginnen damit, alle Orte auszuschließen, an denen Leo nicht ist«, sagte sie. »Kirchen, Museen, Bibliotheken, und natürlich scheiden auch alle vornehmen Viertel aus.«
    »Womit immer noch der größte Teil der Stadt übrig bleibt«, murrte Merripen.
    Merripen war von London nicht besonders angetan. Seiner Meinung nach war die sogenannte zivilisierte Gesellschaft tausendmal barbarischer als alles, was man in der Natur vorfand. Wenn er die Wahl zwischen einem Pferch voller wilder Eber und einem Salon mit vornehmen Adligen hatte, würde er ohne zu zögern den Tieren den Vorzug geben.

    »Wir sollten wohl mit den Tavernen beginnen«, fuhr Amelia fort.
    Merripen
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