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Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Titel: Thennberg oder Versuch einer Heimkehr
Autoren: Gyoergy Sebestyen
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immer schwächer. Der Unterkiefer fiel herunter. Die Beine hielt sie ein wenig gespreizt. Manchmal wiederholten sie die Bewegung des Schrittes, zuckten im Kniegelenk. Rechts und links lagen die beiden Arme mit den kleinen Wunden, die die Injektionsnadeln geschlagen hatten, dürr, wie die Beine einer Spinne. Der Kopf schien kleiner geworden zu sein. Der Brustkorb mit ihrem schönen Busen wölbte sich immer noch. Ihre Gesichtsfarbe war gelblich. Die Falten um den Mund waren tief. Die Linie der Nase war auffallender als früher; die Wachsartigkeit begann an der Nase. In die Nasenlöcher waren Röhren gesteckt, durch sie strömte Sauerstoff.
    Ichmuss mich entschuldigen für diese ausführliche Beschreibung. Ich habe nämlich, so kindisch das auch klingen mag, meine Frau wirklich geliebt, und ich liebte sie weiter in der Gestalt ihrer Tochter; ich möchte mich zu diesem Gefühl bekennen.
    Den jungen Kranz habe ich dann nicht mehr gesehen. Ich sah ihn das letzte Mal Ende August neunzehnhundertsiebenunddreißig und dann erst wieder acht Jahre später im Frühling des Fünfundvierzigerjahres.
    Ich ging damals in den Wald, um Holz zu holen. Jeder machte es so, man musste schließlich heizen und kochen. Liselotte hatte vom Richter Mohaupt, der vom ehemaligen Jäger des seligen Baron Ammer versorgt wurde, zwei Hasen bekommen. Den einen Hasen verkaufte ich einer Dame aus Wien. Ich kannte sie nicht. Sie gab für den Hasen einen Bucharateppich. Das war damals so üblich. Den anderen Hasen wollte Liselotte braten. Ich ging, um Holz zu holen. Ich ging allein. Ich fürchtete mich nicht, denn bei uns im Dorf waren keine Russen, und außerdem hatte ich meine Pistole bei mir. Ich sah dann einen Menschen, der Lumpen am Leib hatte, aber nicht ganz gewöhnliche Lumpen. Man sah diesen Lumpen an, woher sie stammten. Sie stammten aus dem Konzentrationslager. Der Mann war also ein ehemaliger Kazetler. Er war jung, aber in einer ganz schlechten Verfassung. Im Konzentrationslager gab es besonders gegen Ende kaum etwas zu essen. Man heizte nicht mehr. Die Leute starben wie die Fliegen. Das alles wusste man. Das Lager war nicht sehr weit von unserem Dorf. Es war das einzige Kazet in der Gegend. Ich kannte es noch von früher. Früher war dort eineZementfabrik gewesen, sie war später ausgebrannt, und aus den Trümmern und aus anderem Material baute man dann die Baracken. Die Firma, bei der ich war, baute ebenfalls mit. Es war kein großes Geschäft, aber ein Geschäft war es immerhin.
    Da stand also der Kazetler auf dem Weg im Wald. Ich wusste gleich, dass ich ihn überreden würde, in meinem Haus Station zu machen. Es war eine gute Tat, aber daran habe ich damals nicht gedacht. Ich dachte, dass ich diesen Kazetler zu uns ins Haus nehmen würde, damit er uns gegebenenfalls beschütze. Es waren die Zeiten. Man musste mit allem rechnen: mit den Russen, mit den neuen Behörden, mit Racheakten, mit Übergriffen, mit Vergewaltigungen. Liselotte war fünfzehn. Ich hatte die Pflicht, sie zu schützen. Ein Haus, in dem ein ehemaliger Kazetler wohnte, war das sicherste, was ich ihr hatte bieten können.
    Er schien etwas verwirrt. Er fragte, ob die Straße wirklich nach Thennberg führe. Ich fragte: Thennberg? Warum gerade nach Thennberg? Er zog ein Schmalzbrot aus der Tasche und gab mir die Hälfte. Ich gab ihm eine Zigarette. Dann gingen wir heim, sehr langsam. Liselotte briet den Hasen. Der Kazetler schlief oben im ersten Stock, im Schlafzimmer, das unbewohnt ist seit dem Tod meiner Frau. (Ich habe damals unten im Kabinett übernachtet, und meine Tochter Lilo hatte für sich das Wohnzimmer.)
    Erst später, als wir bereits bei Tisch saßen, sagte er, er sei Richard Kranz. Ich hätte ihn nicht wiedererkannt.

S
    iehatte gewusst, dass er sie besuchen würde, gerade sie, obwohl er sich ihrer unmöglich entsinnen konnte, und sie wusste auch, dass der Besuch nicht ihr galt, sondern ihrem Mann, von dem sie seit mehr als einem Jahr keine Nachrichten mehr bekommen hatte, er war vielleicht tot, während sein Jugendfreund plötzlich auftauchte, Richard Kranz, der sich an sie überhaupt nicht und an alle anderen, denen er hier begegnet war, nur wie im Traum erinnern konnte, und selbst dieser Traum war für ihn vermutlich belanglos, wie eine Postkarte, „Schöne Tage in Thennberg“. Sie hatte auch gewusst, dass er sie nicht daheim aufsuchen würde, im Haus ihres Schwiegervaters, sondern während der Geschäftsstunden in der Apotheke. Sie wusste vieles und wunderte
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