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Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Titel: Thennberg oder Versuch einer Heimkehr
Autoren: Gyoergy Sebestyen
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Die Balljungen waren Kinder der ärmsten Leute. Als sie nichts sagen wollten, versprach ihnen Richard Kranz für jedes Wort, das er nicht kannte, zehn Groschen. Daraufhin bekam er Wörter zu hören, die ihm tatsächlich neu waren. Er schrieb alle in das Heft. Bei uns ist die Sprache arm. Die Balljungen hatten nichts Besseres zu bieten als die Namen der Geschlechtsteile, alle die Wörter, die den Geschlechtsakt bezeichnen, also Dinge, die man unter den feinen Leuten in Wien normalerweise nicht ausspricht. Oder nur unter Männern. Richard Kranz zahlte. Dann wollte er wissen, was die Wörter bedeuteten, aber niemand wagte es, die Bedeutung der Wörter zu erklären. Er ging mit seinem Heft zu seiner Erzieherin. Die Erzieherin alarmierte Frau Kranz. Nachher kam der junge Kranz eine Weile nicht mehr auf den Tennisplatz. Dann spielte er wieder, als wäre nichts geschehen. Aber den Jungen aus dem Dorf ging er von da an aus dem Weg.
    Das war besser so, denn man hat ihn nur ausgelacht. Vielleicht wirkte er in seiner normalen Umgebung normal. Im Dorf wirkte er lächerlich. Man sagte, er sei kurzsichtig, trage aber aus Eitelkeit keine Brille. Man sagte, seine Haut sei so empfindlich, dass er nur Damenwäsche tragen könne. Man sagte, die Jungen aus dem Dorf hätten ihm im Wald aufgelauert und hätten ihn verprügelt, und er hätte sich nicht gewehrt und nachher niemandem etwas gesagt. Man erzählte, er wäre gar kein richtiger Junge, denn er wäre in Erich Mohaupt verliebt.
    Mansah die beiden tatsächlich oft beisammen, nicht nur auf dem Tennisplatz. Der Richter Mohaupt und sein Sohn lebten bescheiden. Man sagte: Der alte Baron Ammer habe das Schloss an die Familie Kranz vermietet, und der Richter Mohaupt vermiete ihnen, da er kein Schloss habe, seinen Sohn. So ungefähr haben es die meisten gesehen. Direktor Kranz war sehr reich. Er kannte in Wien die richtigen Leute. Die Bekanntschaft mit Richard Kranz konnte für Erich Mohaupt nützlich sein. Aber Richard Kranz hatte bei der Freundschaft mit Erich Mohaupt nichts zu gewinnen. Also musste er einen geheimen, wahrscheinlich also einen schmutzigen Grund dafür haben, dass er an Erich Mohaupt so sehr hing. Seine Schwärmerei für das Ländliche war keine Erklärung, denn Erich Mohaupt war kein Bauer. Es gab freilich auch die Möglichkeit, dass die beiden ganz einfach befreundet waren. Aber das wäre zu simpel gewesen. Und außerdem: Leute wie die Kranz konnten ja gar nicht wissen, was selbstlose Freundschaft ist, denn sie handelten nur im Sinne ihrer Interessen. Reich können nur Leute werden, denen Gefühle, reine Gefühle, nichts anderes bedeuten als einen entbehrlichen Luxus.
    Im Sommer des Siebenunddreißigerjahres hörte man aber auf, Richard Kranz auszulachen. Man begann ihn zu hassen. Und daran war nicht nur die Zeit schuld, ich meine, der Antisemitismus, sondern eine neue Geschichte. Vielleicht wäre diese neue Geschichte nicht so sehr aufgefallen, wenn Richard Kranz nicht Jude gewesen wäre, ein Jude, auch wenn er noch so oft in der Kirche gesessen war. Aber so, wie nun die Dinge einmal standen, wurde dieSache zum Skandal. Ich glaube, dass Richard Kranz diesen Skandal gar nicht bemerkt hat. Man hat mit ihm von da an ja nicht mehr geredet, und dann waren die Ferien zu Ende, er fuhr wieder nach Hause und kam nicht mehr zurück, oder besser gesagt, er kam erst im Frühling fünfundvierzig zurück, und da lagen die Dinge wieder anders. Ich persönlich muss dem jungen Kranz für diesen Skandal dankbar sein, denn er hatte zur Folge, dass ich Helene heiraten und nach ihrem Tod Liselotte an meiner Seite haben konnte.
    Man erzählte sich also, dass Richard Kranz gar nicht so dumm war, wie er tat, gar nicht so weltfremd, da ihm ja gelungen sei, mit der Frau des Veit Wallach eine Liebesbeziehung anzufangen. Man erzählte sich, Frau Wallach hätte dafür Geld genommen, und zwar ziemlich viel. Es gab sogar Leute, die sagten, sie hätte vernünftig gehandelt, denn die Post zahlte miserabel, und die Wallachs hatten ja ein Kind. Aber die meisten waren dagegen. Sie äußerten ihre Meinung sogar sehr heftig. Angeblich hat jemand gesehen, dass Frau Wallach mit dem jungen Kranz verschwand, nicht im Schloss, sondern im eigenen Haus. Jemand hat angeblich gehört, dass die Tür verriegelt worden war. Jemand behauptete, Frau Wallach hätte Liselotte vorher zu den Nachbarn gebracht, mit der Bemerkung, sie sollten auf das Kind aufpassen, denn sie selbst leide seit einiger Zeit an Kopfweh und müsse
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