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Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Titel: Thennberg oder Versuch einer Heimkehr
Autoren: Gyoergy Sebestyen
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ein Herr.
    Das Haus, das er dem Direktor Kranz vermietet hatte, ist sehr ansehnlich, aber ein Schloss ist es nicht. Baron Ammer wohnte während der Sommermonate auf dem Eichelberg an einer Waldschneise in einer Jagdhütte. Im Winter wohnte er im Schloss. Daran ist er dann gestorben: an Lungenentzündung. Aber während der Sommermonate konnte man im Schloss ganz gut wohnen. Es war verhältnismäßig trocken. Da also wohnte Frau Kranz und natürlich auch der Sohn.
    Ich hab’ ihn das erste Mal neunzehnhundertfünfunddreißig gesehen, bevor die Dame aus Zürich zu Besuch gekommen ist. Er mochte zwölf gewesen sein. Ein Kind. Ich hatte damals die Firma noch nicht gehabt, war aber bereits im Baugewerbe tätig. Im Schloss gab es immer etwas zu bauen. Bevor die Dame aus Zürich zu Besuch kam, wurde zum Beispiel der Dachboden hergerichtet. Wir bauten ihn um als Mansarde, wir bauten eine ganze kleine Wohnung. Sie war sehr hübsch. Wie ein Puppenhaus. Wieso der Direktor Kranz, der ja nur ein Mieter war, ein Haus umbauen lassen durfte, das gar nicht ihm gehörte, weiß ich nicht. Vielleicht hatte er das Haus dem alten Baron abgekauft. Später war das nicht mehr so wichtig, denn die Juden wurden abtransportiert, und danach gehörte das Haus dem jungen Baron.
    Ich war damals bei der Baufirma im Büro, denn ich habe meine Studien unterbrechen müssen. Meinen Eltern ist das Geld ausgegangen, und ich war da erst im fünften Semester. Ich wollte Apotheker werden, das ist ein sicheres Leben, und unser Apotheker war nicht mehr der jüngste. Auch die Apotheke selbst ist ziemlich alt. Unser Dorf ist klein, und trotzdem hat es eine Apotheke. Das hat zwei Gründe. Erstens gab es Zeiten, in denen Thennberg eine gewisse Rolle gespielt hat. Früher einmal gab es hier einen berühmten Wochenmarkt. Es gab auch eine Poststation und ein Vermessungsamt. Und zweitens war der Urgroßvater des alten Baron Ammer ein Narr. Er schwärmte für das einfache Volk und schwärmte für sich selbst. Er war ein Hypochonder. So kam dann Thennberg zu einer Apotheke. Damals, als ich Pharmakologie studierte, hatte der Apotheker eine Tochter namens Katherina, die ich partout heiraten wollte. Als ich in das Baugewerbe ging, heiratete sie einen anderen. Er heißt Erich Mohaupt und führt heute die Apotheke. Er ist auch Gemeinderat. Dieser Mohaupt hat mir die Katherina weggeschnappt. Sein Vater war Richter, stand zwar kurz vor der Pensionierung, aber immerhin, er war Staatsbeamter. Der Richter Mohaupt und der alte Baron Ammer waren Jugendfreunde. Der alte Apotheker gehörte zu ihrer Clique. Die Herren arrangierten sich untereinander. Und ich hatte zum Studium kein Geld. Ohne dieses Jugenderlebnis wäre ich nicht geworden, der ich heute bin.
    Alsich damals, im Fünfunddreißigerjahr, in das Schloss kam, habe ich den jungen Kranz das erste Mal gesehen. Er war dick und traurig. Ich erinnere mich noch, dass ich dachte: Ein Junge in seinem Alter müsste herumtollen, aber dieser da sitzt nur in einem Armstuhl mit einem Buch, oder er geht unter den Bäumen auf und ab wie ein alter Mann. Ich dachte: Ohne Zweifel degeneriert, kein Wunder, erblich belastet. Das war damals noch eine ganz andere Konstellation. Meine spätere Frau war, wie gesagt, noch mit Veit Wallach verheiratet. Liselotte war erst fünf und Richard erst zwölf. Die Kinder wachsen heran, aber die Alten sterben noch nicht gleich. Sie müssen miteinander leben. Das führt zu Komplikationen.
    Richard Kranz kam dann noch im nächsten Sommer und im übernächsten zusammen mit seiner Mutter. Er hatte Ferien. Sonst besuchte er das Gymnasium in Wien. Er zeigte eine ungewöhnliche Neugier für das Landleben. Er versuchte, mit gleichaltrigen Jungen aus dem Dorf ins Gespräch zu kommen, was nicht üblich war. Er ging auch jeden Sonntag zur Messe, obwohl er Jude war, wenigstens als Jude geboren. Vielleicht hatte sich die Familie Kranz taufen lassen. Vielleicht hielt sich der junge Kranz für einen Christen. Es war trotzdem ungehörig, dass er zur Messe kam.
    Er hatte ein Heft, in dem er alle Worte und Redewendungen aufschrieb, die ihm neu waren. Alles, was bäuerlich war, hatte er gern. Man hat darüber viel gelacht. Zum Schloss gehörte auch ein Tennisplatz. Obwohl der junge Kranz träge aussah, spielte er fleißig Tennis, entweder mit seiner Erzieherin oder mit Erich Mohaupt. Eines Tageskam Richard Kranz mit seinem Heft auf den Tennisplatz und bat die Balljungen, sie möchten ihm bäuerliche Redewendungen sagen. Folklore.
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