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The Lost

Titel: The Lost
Autoren: Jack Ketchum
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Körper erkaltete, damit ihn die Kälte davon überzeugte, dass es vorbei war.
HINTERHER

    »Was sollen wir also tun? … Wir müssen denen, die Gott uns auf unserem Lebensweg
    begegnen lässt, Liebe entgegenbringen.«

    – Christopher J. Koch, Ein Jahr in der Hölle
FLOWER POWER
    Können Tote träumen?
    Katherine tat es.
    Im Epizentrum ihres Traums stand ihre Mutter, hell erleuchtet wie im Lichtstrahl eines Bühnenscheinwerfers. Es war eine jüngere Ausgabe ihrer Mutter, die Katherine nur von alten Schwarz-Weiß-Fotos kannte, sie war etwa in Katherines Alter. Sie trug ein rosafarbenes seidenes Hängekleid mit Spaghettiträgern und einen dazu passenden randlosen Damenhut, so wie viele emanzipierte Frauen in den zwanziger Jahren. Lächelnd lehnte sie an einer Bar, umgeben von den leeren Stühlen und Tischen eines namenlosen Restaurants von anno dazumal, und trank aus einem langstieligen Glas.
    Hinter ihr erschien der Barmann in einem gestärkten weißen Hemd mit Ärmelhaltern, und während sie ihm zusah, wie er ein Glas polierte, war der ganze Raum plötzlich bis auf den letzten Platz gefüllt; an allen Tischen saßen stilvoll gekleidete junge Leute jener Ära und redeten und lachten. Plötzlich hatte sie das seltsame Gefühl, auf ihre Mutter zuzuschweben, vorbei an den speisenden und trinkenden Gästen, als wäre sie eine Sommerbrise oder ein Geist. Aber sie war kein Geist, nein, denn ihre Mutter stellte das langstielige Glas auf die Bar und umarmte sie lächelnd. Sie spürte die sanfte Berührung ihrer Hände auf dem Rücken, und dann nahm ihre Mutter die Hände herunter, und ihr junges hübsches Gesicht wurde ernst.
    Du bist nicht wie ich, sagte sie. Du bist es nie gewesen. Bei dir ist alles in Ordnung. Du bist völlig gesund, Katherine. Völlig gesund.
    Und als das Licht im Raum schlagartig ausging und das ausgelassene Lachen der jungen Menschen verstummte, da glaubte Katherine ihr.

    Schilling beobachtete, wie es mit ihr zu Ende ging.
    Er sah, wie ihr Vater schluchzend am Krankenbett hockte. In nur zwei Wochen hatte der Mann alles verloren, was ihm lieb und teuer gewesen war. Es gab keine Worte, mit denen Schilling ihn hätte trösten können.
    Nichtsdestotrotz versuchte er es. Er versuchte es. Doch seine Worte kamen ihm vor wie Kieselsteine, die man in einen See warf. Aus welcher Höhe man auch herabblickte, man sah kaum ein Kräuseln. Welche Rolle spielte es für diesen Mann, dass Pye den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen würde? Welche Rolle, dass selbst mit den modernen Mitteln der plastischen Chirurgie Pyes arrogantes hübsches Gesicht nicht wiederhergestellt werden konnte? Dass Pye nie wieder morden würde? All das war bedeutungslos angesichts des ungeheuerlichen Verlustes, den der Mann erlitten hatte. Pye war am Leben und sein kleines Mädchen nicht.
    Ende der Geschichte.
    Auch für Schilling war das Ende der Geschichte gekommen. Falls er die Kröte jemals schlucken würde, dann jetzt. Heute oder zumindest sehr bald. Die ganze Woche das einsame allabendliche Warten auf ihren Tod; die gewaltige Kluft zwischen dem, was er hatte erreichen wollen und was letztlich dabei herausgekommen war, die sich wie ein Abgrund vor ihm auftat. Er hatte keinen Tropfen Alkohol angerührt. Er fürchtete sich davor, etwas zu trinken. Doch die Tatsache, dass er nüchtern war, verschaffte ihm keine Absolution wegen der Ereignisse, die er mit seinem Spürsinn und seiner bedingungslosen Entschlossenheit heraufbeschworen hatte. Die Nüchternheit war ein Engel, der mit leeren Händen kam.
    Jeden Abend verbrachte er mehrere Stunden im Krankenhaus und löste Wallace ab, falls der ihn ließ; er drängte ihn, wenigstens auf einen Kaffee hinunterzugehen oder ein bisschen frische Luft zu schnappen. Doch meistens lehnte Wallace ab, und so saßen sie schweigend da, die Stille nur gelegentlich unterbrochen von den bruchstückhaften Erzählungen über seine Tochter, die fast zwanghaft, gegen seinen Willen, aus ihm hervorsprudelten. Er erzählte von der Party zu seinem vierzigsten Geburtstag, als Katherine sich von hinten angeschlichen und ihm die Schokoladentorte mit Erdbeerfüllung und Vanilleglasur ins Gesicht gedrückt und er sich auf die gleiche Weise revanchiert hatte – das Bild eines kleines Mädchens und seines Vaters, die beide mit Geburtstagstorte im Gesicht durchs Wohnzimmer tollten. Er erzählte von ihrer schwierigen Geburt, von den siebenstündigen Wehen seiner Frau, die einen Kaiserschnitt abgelehnt hatte. Er
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