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The Lost

Titel: The Lost
Autoren: Jack Ketchum
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erzählte von dem viel zu freizügigen schwarzen Kleid, das Katherine beim Abschlussball nach der siebten Klasse getragen hatte.
    All das und noch vieles mehr hörte Schilling sich geduldig an, bis er fast das Gefühl hatte, er hätte Katherine tatsächlich gekannt. Jeden Abend stellte er ihr frische Blumen ans Bett, und dann starb sie.
    Es fiel Schilling schwer, ihren Vater am Abend ihres Todes alleine zu lassen, doch Wallace bestand darauf. Also stieg er in seinen Wagen, allerdings fuhr er nicht nach Hause, sondern hinunter ins Flachland zu Barbara und Elise Hanlons Haus in Short Hills. Die Villa war dunkel, in der Auffahrt stand kein Wagen. Es war also niemand zu Hause. Er parkte und wartete. Worauf, das wusste er nicht. Er wartete einfach. Eine Dreiviertelstunde saß er in der Dunkelheit und rauchte fünf Zigaretten bis zum Filter hinunter, und dann wurde ihm schließlich klar, warum er hier war.
    Das Haus der Hanlons war für ihn eine Art Wunschbrunnen. Ein Ort, an dem sich sein Geist vielleicht so weit leerte, sich von seinem Wissen um die reale Welt und wie diese Welt funktionierte befreite, dass in ihm wieder ein wenig Hoffnung, Vertrauen und Zärtlichkeit aufkeimte.
    Den Brunnen hatte er am Tag von Elise Hanlons Tod schon einmal aufgesucht, doch es hatte nicht funktioniert. Seine Münze war in jener bodenlosen Finsternis verschwunden, die seit ihrer letzten Begegnung von Barbara Hanlon Besitz ergriffen hatte.
    Aber jetzt versuchte er es von neuem.
    Bitte, dachte er.
    Am Morgen erwachte er zusammengesunken über dem Lenkrad. Der Wagen stank nach Zigarettenrauch und Asche. Tau bedeckte die Windschutzscheibe. In der Zufahrt stand noch immer kein Ferrari.
    Also fuhr er nach Sparta zurück.

    An dem Tag, an dem Ray für die Morde an Lisa Steiner und Elise Hanlon verurteilt wurde, sah Tim ihn erst das zweite Mal, seit er in seinem Zimmer das Loch in die Wand geschlagen hatte und mit dem Klumpen Haschisch in der Faust hinausmarschiert war. Das erste Mal war am Tag seiner Aussage gewesen. An diesem Nachmittag hatte Ray bereits neben seinem Anwalt gesessen, als Tim den Gerichtssaal betrat. Heute stand Ray. Und diesmal wurde Tim klar – vielleicht weil er als bloßer Zuschauer nicht so nervös war –, dass Ray sich wieder einmal neu erfunden hatte. Mit der gebrochenen Nase und dem platten Wangenknochen wirkte er älter, nicht mehr wie der hübsche Junge, sondern erwachsener, und der schlichte blaue Anzug, die gestreifte Krawatte und die neuen braunen Straßenschuhe verstärkten diesen Eindruck noch.
    Sein Haar war kurzgeschnitten und sauber nach rechts gescheitelt.
    Ohne die Stiefel und die Bierdosen darin war er unglaublich klein, fand Tim.
    Ein kleiner Bursche im Anzug. Wie hatte so ein Typ nur solche Gräueltaten vollbringen können?
    Der Staatsanwalt ging keinerlei Risiko ein. Er hatte sowohl Tim als auch Jennifer im Gegenzug für ihre Aussage Straffreiheit zugesichert und Ray zunächst wegen Steiner/Hanlon angeklagt; Ende nächsten Monats würde der Prozess wegen des Amoklaufs im August folgen, diesmal wegen siebenfachen Mordes, Entführung in fünf Fällen und Angriff mit einer Schusswaffe in drei Fällen. Draußen fegte der heulende Novemberwind um das Gerichtsgebäude. Der Schnee würde früh kommen in diesem Jahr. Drinnen im Saal war es warm, und abgesehen von dem Papiergeraschel auf den Schreibtischen der Anwälte und dem gelegentlichen Räuspern und Füßescharren herrschte Stille.
    Der Richter verlas das Urteil der Geschworenen.
    Schuldig in beiden Fällen.
    Ray lächelte und zuckte mit den Schultern, während er nach draußen geführt wurde. Als würde ihm das nicht viel ausmachen.
    Er hatte Tim nicht eines Blickes gewürdigt, nicht mal als dieser gegen ihn ausgesagt hatte. Es war, als würde Tim für ihn gar nicht existieren, als wäre er gar nicht anwesend, nicht mal als Tim ihn im Zeugenstand verpfiffen hatte. Auch jetzt schaute er kein einziges Mal zu ihm herüber, obwohl er bestimmt wusste, dass Tim hier war.
    Tim, der neben seinem Vater gesessen hatte, erhob sich und sah, dass Detective Schilling einige Reihen hinter ihm ebenfalls aufgestanden war. Schilling und ein anderer etwas kleinerer, dünnerer Mann mit Augenringen halfen einer beleibten Frau auf die Beine. Sie wirkte niedergeschlagen, keineswegs erleichtert. Es war Elise Hanlons Mutter. Tim schaute schnell weg, mied ihren Blick.
    Erneut fiel ihm auf, dass Rays Vater nicht hier war.
    Begleitet von Stimmengewirr verließen Tim und sein Vater
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