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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar
Autoren: J.R. Moehringer
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jeden Abend in dem gleichen olivgrünen Radio eine Party gab wie Stevie Wonder, Van Morrison und die Beatles, war das Gegengift zu dem ganzen Zwist um mich herum. Wenn Oma und Opa sich über das Lebensmittelgeld in die Wolle kriegten oder wenn Tante Ruth wutentbrannt etwas gegen die Wand warf, presste ich mein Ohr dicht ans Radio und die Stimme erzählte mir etwas Lustiges oder spielte mir ein Lied von Peppermint Rainbow. Ich hörte der Stimme so inbrünstig zu und erlangte eine solche Meisterschaft darin, andere Stimmen auszuschließen, dass ich ein Ass in selektivem Hören wurde, was ich als Talent empfand, bis es sich irgendwann als Fluch erwies. Im Leben kommt es nur darauf an, zu entscheiden, welchen Stimmen man zuhört und welche man ausblendet, eine Lektion, die ich lange vor den meisten Leuten lernte, aber auch eine, die für mich zu nutzen ich länger brauchte als die meisten anderen.
    Ich erinnere mich noch, dass ich mich eines Tages besonders einsam fühlte, als ich die Sendung meines Vaters einschaltete. Als ersten Song spielte er »Working My Way Back to You« von den Four Seasons, dann sagte er in seinem samtigen, seidenweichen Tonfall, dem man das Lächeln im Gesicht anhörte: »Ich arbeite mich wirklich zu dir zurück, Momma – aber es dauert, denn ich hab nur eine Zeitungstour.« Ich schloss die Augen, lachte und vergaß einen Augenblick lang, wer und wo ich war.
     
     
     
2 | DIE STIMME
     
     
    Mein Vater war ein vielseitig begabter Mann, doch sein wahres Genie lag im Verschwinden. Ohne Vorwarnung änderte er seine Schichten oder wechselte die Sender. Ich konterte, indem ich ein Kofferradio mit hinaus auf die Vortreppe nahm, wo der Empfang besser war. Mit dem Radio auf dem Schoß wackelte ich an der Antenne, drehte langsam den Senderknopf und kam mir verloren vor, bis ich wieder die Stimme fand. Eines Tages erwischte mich meine Mutter. »Was machst du da?«, fragte sie. »Ich suche meinen Vater.«
    Sie runzelte die Stirn, drehte sich um und ging ins Haus.
    Ich wusste, dass die Stimme nicht dieselbe beruhigende Wirkung auf meine Mutter hatte. Ihrer Ansicht nach klang die Stimme meines Vaters »nach Geld«, wie Fitzgerald von einer anderen leichtsinnigen Stimme in Manhasset schrieb. Wenn meine Mutter meinen Vater im Radio hörte, dann hörte sie nicht seine Witze, seinen Charme, seine Stimme. Sie hörte jede von ihm nicht geleistete Unterhaltszahlung. Wenn ich den ganzen Tag der Stimme gelauscht hatte, suchte sie oft die Post nach einem Scheck von ihm durch. Meistens ließ sie die Umschläge dann auf den Esstisch fallen und sah mich ausdruckslos an. Wieder mal nichts.
    Meiner Mutter zuliebe hörte ich immer möglichst leise Radio. Von Zeit zu Zeit versuchte ich sogar, ganz auf die Stimme zu verzichten, aber es war hoffnungslos. In Opas Haus hatte jeder mindestens ein Laster – Trinken, Rauchen, Spielen, Lügen, Fluchen, Faulsein. Mein Laster war die Stimme. Mit zunehmender Abhängigkeit wuchs auch meine Toleranz, bis es mir nicht mehr genügte, nur zuzuhören. Ich fing an, mit ihr zu reden. Ich erzählte der Stimme von der Schule, der Little League, dem Gesundheitszustand meiner Mutter. Abends nach der Arbeit sei sie immer erschöpft, sagte ich der Stimme, und ich machte mir ständig Sorgen um sie. Wenn ich genau den richtigen Zeitpunkt abpasste – also zuhörte, wenn die Stimme redete und redete, wenn die Stimme schwieg – kam es mir fast wie eine Unterhaltung vor.
    Irgendwann erwischte mich meine Mutter. »Mit wem redest du?«, fragte sie.
    »Mit keinem.«
    Sie hielt sich die Hand vor den Mund und wirkte verzweifelt. Ich drehte die Lautstärke leiser.
    Eines Abends, die Stimme hatte gerade das Ende der Sendung angesagt, klingelte das Telefon in Opas Wohnzimmer. »Geh ran«, sagte meine Mutter in einem seltsamen Ton. Ich hob den Hörer ab. »Hallo?«
    »Hallo«, sagte die Stimme.
    »Dad?«, fragte ich.
    Ich hatte dieses Wort noch nie zuvor benutzt und fühlte einen Druck in mir weichen, als wäre ein Korken geknallt. Er fragte, wie es mir ginge. In welcher Klasse ich sei. Tatsächlich? Ob ich meine Lehrer mochte. Nach meiner Mutter, die den Anruf heimlich organisiert hatte, als sie meine letzte Unterhaltung mit dem Radio gehört hatte, erkundigte er sich nicht. Er erklärte auch nicht, wo er war oder warum er nie zu Besuch kam. Er plauderte belanglos dahin, als wären wir alte Armeekumpel. Dann hörte ich ihn lange an einer Zigarette ziehen und so heftig ausatmen, dass ich dachte, eine
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