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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar
Autoren: J.R. Moehringer
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sie.
    »Nein.«
    »Du musst aber essen.«
    »Nein.«
    »Eine Kleinigkeit.«
    »Im Stadion kaufen wir uns Hotdogs.«
    »Hm.«
    »Er ist bloß spät dran. Er kommt noch.«
    Ich hörte, wie Opa das Mets-Spiel auf Kanal 9 einstellte. Wegen seines schlechten Gehörs und dem ganzen Lärm im Haus stellte er den Fernseher normalerweise auf volle Lautstärke. An jenem Abend lief der Apparat mir zuliebe leise.
    Um neun probierte ich etwas Neues aus. Wenn ich das nächste Auto nicht ansehe, sagte ich mir, wenn ich nicht den geringsten Blick auf den Fahrer werfe, dann ist es bestimmt mein Vater. Diese Strategie, in die ich volles Vertrauen setzte, wandte ich bei dreißig Autos an.
    Um halb zehn gestand ich mir das Unvermeidliche langsam ein. Ich nahm meine Mets-Kappe ab, zog den Handschuh aus und benutzte ihn als Sitzkissen. Und ich aß ein Stück von Omas Hähnchen.
    Um zehn rannte ich ins Haus, um zu pinkeln. Als ich durch den Flur eilte, hörte ich die Menge im Shea Stadium einen Home Run bejubeln.
    Um elf war das Spiel zu Ende. Ich ging ins Haus, zog meinen Schlafanzug an und legte mich hin. Sekunden nachdem ich das Licht ausgemacht hatte, erschien Opa am Fußende von meinem Bett. Wäre Lyndon Johnson persönlich aufgetaucht, hätte ich nicht mehr gestaunt.
    »Tut mir leid«, sagte er. »Das mit deinem Vater.«
    »Ach«, sagte ich lässig und zupfte an einem losen Faden in meiner Kuscheldecke. »Ich bin froh, dass er nicht gekommen ist. Die Hose, die ich anhatte, hat mir sowieso nicht gefallen.«
    Opa nickte und ging dann aus dem Zimmer.
    Ich lag im Dunkeln und lauschte Opa und Oma in der Küche, die über meinen Vater redeten, der »JR im Stich gelassen« hatte. Als ein Auto in die Auffahrt einbog, hielten sie inne. Kies knirschte unter Reifen, ein Motor lief im Leerlauf. Mein Vater! Ich sprang aus dem Bett und rannte aus dem Schlafzimmer. Am Ende des schmalen Flurs, der zur Haustür führte, stand meine Mutter. »Oh nein«, sagte sie. »Was machst du denn hier? Warst du etwa nicht bei dem Spiel?«
    Ich schüttelte den Kopf. Sie eilte zu mir, und ich schlang die Arme um sie, erschrocken darüber, wie sehr ich sie liebte und wie dringend ich sie brauchte. Während ich meine Mutter festhielt, mich an sie klammerte und an ihren Beinen weinte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass sie alles war, was ich besaß, und wenn ich nicht gut auf sie aufpasste, wäre ich verloren.
     
     
     
3 | KUSCHELDECKE
     
     
    Wenn ich nicht über dem Radio hockte und der Stimme lauschte, war ich auf die Frequenzen meiner Mutter eingestellt und achtete auf ihre Stimmungen. Ich beobachtete sie, analysierte sie, folgte ihr von einem Zimmer ins nächste. Es war mehr als Anhänglichkeit, mehr als Fürsorge. Es grenzte fast schon an Verfolgung, denn so sehr ich meine Mutter auch beobachtete und ihr zuhörte, war sie mir doch oftmals ein absolutes Rätsel.
    Wenn sie glücklich war, wenn sie Freude oder Liebe zeigte, konnte sie herrlich laut sein. War sie aber traurig oder verletzt, ängstlich oder bedrückt wegen Geldsorgen, verfiel sie in Schweigen und ihre Miene wurde ausdruckslos. Es gab Leute, die ihr diesen Hang als Gefühlskälte auslegten, aber damit lagen sie völlig falsch. Selbst mit meinen sieben Jahren begriff ich, dass sich hinter den Schweigephasen und ausdruckslosen Gesichtern ein großer emotionaler Kessel verbarg. Was wie ein Gefühlsmangel wirkte, war ein Überschuss, ein Zuviel. Meine Mutter schlüpfte aus Diskretion hinter ihre Maske aus vorgetäuschtem Ernst, so wie sich jemand zum Kleiderwechseln hinter eine Trennwand stellt.
    Oma zufolge war meine Mutter schon immer ein bisschen unergründlich gewesen, und zur Erläuterung erzählte sie mir eine Geschichte. Als meine Mutter in die zweite Klasse ging, stellte die Lehrerin eine Frage, und meine Mutter meldete sich sofort. Sie wusste die Antwort und konnte es kaum erwarten, sie loszuwerden. Aber die Lehrerin nahm jemand anderen dran. Ein paar Minuten später sah die Lehrerin, dass meine Mutter sich immer noch meldete. Dorothy, sagte sie, nimm die Hand runter. Ich kann nicht, sagte meine Mutter. Nimm deine Hand runter, sagte die Lehrerin. Meiner Mutter stiegen Tränen in die Augen. Die Lehrerin schickte meine Mutter zur Direktorin, die meine Mutter zur Schulschwester schickte, die wiederum feststellte, dass meine Mutter nicht schauspielerte. Hand und Arm waren tatsächlich in aufrechter Position erstarrt. Oma wurde in die Schule gerufen, und sie beschrieb mir mit einiger
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