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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar
Autoren: J.R. Moehringer
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Rauchwolke würde durch den Hörer schießen. Ich konnte den Rauch in seiner Stimme hören und glaubte tatsächlich, seine Stimme bestünde aus Rauch. Genauso stellte ich mir meinen Vater vor – als sprechenden Rauch.
    »Pass auf«, sagte er. »Hast du Lust, dir mit deinem alten Herrn ein Baseballspiel anzusehen?«
    »Wow! Wirklich?«
    »Klar.«
    »Mets oder Yankees?«
    »Mir egal.«
    »Onkel Charlie sagt, die Mets waren neulich im Dickens.«
    »Wie geht’s deinem Onkel Charlie? Läuft es gut in der Bar?«
    »Morgen Abend spielen sie gegen die Braves.«
    »Wer?«
    »Die Mets.«
    »Ach. Richtig.«
    Ich hörte Eiswürfel in einem Glas Mackern. »Abgemacht«, sagte er. »Morgen Abend. Ich hol dich bei deinem Großvater ab – halb sieben.«
    »Ich bin da.«
    Um halb fünf war ich startklar. Meine Mets-Kappe auf dem Kopf, saß ich auf der Vortreppe, schlug mit der Faust in die Tasche meines DaveCash-Handschuhs und sah nach jedem Auto, das sich dem Haus näherte. Ich wartete auf meinen Vater, wusste aber nicht, was das hieß. Meine Mutter hatte keine Fotos von ihm aufgehoben, und ich war noch nie in New York gewesen, wo ich sein Gesicht auf Reklametafeln und Bussen hätte sehen können. Ich wusste nicht, ob mein Vater ein Glasauge hatte, ein Toupet, einen Goldzahn. Ich hätte ihn nicht mal bei einer polizeilichen Gegenüberstellung erkannt, eine Sache, die meiner Großmutter zufolge eines Tages unweigerlich auf mich zukäme.
    Um fünf erschien Oma an der Tür. »Ich dachte, er kommt erst um halb sieben«, sagte sie.
    »Ich will bereit sein. Falls er früher kommt.«
    »Dein Vater? Früher?« Sie schnalzte geringschätzig. »Deine Mutter hat von der Arbeit angerufen. Sie sagt, ich soll dir sagen, du sollst eine Jacke mitnehmen.«
    »Viel zu heiß.«
    Sie schnalzte wieder und ging weg. Oma war kein Fan von meinem Vater, und damit stand sie nicht allein. Die ganze Familie hatte die Hochzeit meiner Eltern boykottiert, nur Onkel Charlie nicht, der vier Jahre jüngere, rebellische Bruder meiner Mutter, der sie zum Altar führte. Ich schämte mich, dass mich der Besuch meines Vaters so begeisterte. Ich wusste, es war falsch, mich auf ihn zu freuen, an ihn zu denken, ihn zu lieben. Als der Mann in meiner Familie und Beschützer meiner Mutter hätte ich mich darauf einstellen müssen, Geld von ihm zu verlangen, sobald ich ihn zu Gesicht bekam. Aber ich wollte ihn nicht vertreiben. Ich sehnte mich mehr danach, ihn zu sehen, als zum ersten Mal meine heiß geliebten Mets.
    Ich spielte mit einem Gummiball auf der Vortreppe und versuchte mich auf die guten Dinge zu konzentrieren, die ich über meinen Vater wusste. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass er vor seiner Zeit beim Radio ein »Stand-up« war und die Leute sich bei seinen Auftritten »kugelten«. »Was ist ein Stand-up?«, fragte ich. »Jemand, der vor den Leuten aufsteht und sie zum Lachen bringt«, sagte sie. Ich fragte mich, ob mein Vater auch vor mir aufstehen und mich zum Lachen bringen würde. Ober wie Johnny Carson aussah, mein Lieblingskomiker? Ich hoffte es und versprach Gott, ihn nie wieder um etwas zu bitten, wenn mein Vater wie Johnny Carson aussähe – mit jenen verschmitzten Augen und dem freundlichen Hauch von Lächeln, das immer seine Mundwinkel umspielte.
    Plötzlich kam mir ein schrecklicher Gedanke, und ich hörte auf, den Ball gegen die Vortreppe zu werfen. Was wäre, wenn mein Vater, der ja wusste, wie die Familie auf ihn reagierte, nicht in die Auffahrt einbiegen wollte? Was wäre, wenn er auf der Plandome Road langsamer fuhr, um nachzusehen, ob ich da war, und dann schnell davonfuhr? Ich rannte zum Gehweg. Jetzt konnte ich durch sein Fenster hüpfen, wenn er langsamer fuhr und dann wären wir weg. Zur Seite geneigt wie ein Anhalter starrte ich jeden vorbeifahrenden Mann an und versuchte zu entscheiden, ob es mein Vater sein könnte. Und jeder Fahrer blickte besorgt oder verärgert zurück und fragte sich, warum ihn dieser siebenjährige Junge so interessiert anstarrte.
    Kurz nach acht ging ich wieder zur Vortreppe und beobachtete den Sonnenuntergang. Der Horizont färbte sich im gleichen Orange wie die Trikots der Dickens-Softballmannschaft und der NY-Schriftzug auf meiner Mets-Kappe. Onkel Charlie machte sich auf den Weg zur Bar. Mit großen Schritten und gesenktem Kopf ging er über den Rasen und war so ins Putzen seiner Sonnenbrille vertieft, dass er mich nicht sah.
    Um halb neun erschien Oma an der Tür. »Komm rein und iss was«, sagte
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