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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar
Autoren: J.R. Moehringer
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Bar.
    Neben einem Ort der Geborgenheit lieferte Steve auch abendliche Lektionen in Demokratie und demonstrierte die Gleichheit vor dem Alkohol. Stand man in der Mitte der Bar, konnte man sehen, wie Männer und Frauen aus allen gesellschaftlichen Schichten einander belehrten und beschimpften. Man konnte hören, wie der ärmste Schlucker der Stadt mit dem Präsidenten der New Yorker Börse über »Marktunbeständigkeit« diskutierte. Oder wie die Bibliothekarin aus dem Ort einem New York Yankee, der es in die Hall of Fame geschafft hatte, die richtige Haltung des Schlägers erklärte. Man konnte einen debilen Portier etwas derart Bizarres sagen hören, dass ein gescheiter Professor es sich rasch auf eine Serviette notierte und einsteckte. Man hörte Barkeeper wie Philosophenkönige parlieren, während sie zwischendurch Wetten abschlossen und Pink Squirrels mixten.
    Für Steve war die Bar an der Ecke der egalitärste aller amerikanischen Sammelpunkte, und er wusste, Amerikaner verehrten seit jeher ihre Bars, Saloons, Tavernen und »Kneipen« – eines seiner Lieblingsworte. Er wusste, wie wichtig Amerikanern ihre Bars waren und dass sie hingingen, weil sie dort von Glanz bis Schutz alles bekamen, vor allem aber, weil sie dort die Geißel des modernen Lebens loswurden – die Einsamkeit. Er wusste nicht, dass die Puritaner bei ihrer Ankunft in der Neuen Welt noch ehe sie eine Kirche bauten, eine Bar bauten. Er wusste nicht, dass die amerikanischen Bars direkt von den mittelalterlichen Wirtshäusern in Chaucers Canterbury Tales abstammen, die von den angelsächsischen Bierschänken abstammten, die wiederum von den tabernae an den Straßen des alten Roms abstammten. Der Stammbaum von Steves Bar reichte bis zu den bemalten Höhlen in Westeuropa zurück, in denen Steinzeitmenschen vor fast fünfzehntausend Jahren ihre Söhne und Töchter in die Stammessitten einführten. Obwohl Steve all diese Fakten nicht kannte, hatte er sie irgendwie im Blut und setzte sie bei allem ein, was er machte. Mehr als die meisten Männer schätzte Steve die Bedeutung eines Ortes, und auf dem Eckpfeiler dieses Prinzips gelang es ihm, eine Bar zu bauen, die auf eine so eigenwillige, raffinierte und wunderbare Weise mit ihren Gästen im Einklang stand, dass ihr Ruf weit über Manhasset hinausging.
    Meine Heimatstadt war für zwei Dinge bekannt: Lacrosse und Alkohol. Jahrein, jahraus produzierte Manhasset unverhältnismäßig viele herausragende Lacrosse-Spieler und eine noch größere Anzahl aufgeschwemmter Lebern. Einigen Leuten war Manhasset auch als Hintergrund für Der große Gatsby bekannt. Während F. Scott Fitzgerald Teile seines Meisterwerks schrieb, saß er auf einer luftigen Veranda in Great Neck und blickte über die Manhasset Bay auf unsere Stadt, die in seinem Buch zum erfundenen East Egg wurde, eine historische Auszeichnung, die unserer Bowlingbahn und Pizzeria eine gewisse archäologische Großartigkeit verlieh. Jeden Tag schlenderten wir durch Fitzgeralds verlassenes Bühnenbild. Zwischen seinen Ruinen hatten wir unsere Stelldicheins. Es war ein Hochgefühl – eine Ehre. Doch genau wie Steves Bar war auch das nur ein Nebenschauplatz von Manhassets berüchtigtem Hang zum Trinken. Wer Manhasset kannte, verstand genau, warum der Alkohol Fitzgeralds Roman durchdrang wie der Mississippi ein Überschwemmungsgebiet. Männer und Frauen, die wilde Partys gaben und tranken, bis sie umfielen oder jemanden mit dem Auto überfuhren? Für uns klang das wie ein typischer Abend in Manhasset.
    Manhasset, Sitz des größten Spirituosengeschäfts im Staat New York, war die einzige Stadt auf Long Island, nach der ein Cocktail benannt wurde (ein Manhasset ist ein Manhattan, nur mit mehr Alkohol). Die vierhundert Meter lange Hauptader, Plandome Road, war die Traumstraße eines jeden Trinkers, denn hier reihte sich Bar an Bar. Viele in Manhasset verglichen die Plandome Road mit einer mythischen Landstraße in Irland, einer sich sanft schlängelnden Prozession von Männern und Frauen, die von Whiskey und guter Laune nur so strotzte. Die Bars an der Plandome Road waren so zahlreich wie die Sterne auf dem Walk of Fame in Hollywood, und darauf hielten wir uns stur und exaltiert etwas zugute. Setzte ein Wirt seine Bar an der Plandome Road in Brand, um die Versicherungssumme zu kassieren, stöberte ihn die Polizei in einer anderen Bar an der Plandome Road auf und sagte, er werde zum Verhör gesucht. Der Mann legte eine Hand aufs Herz wie ein Priester, den man
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