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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar
Autoren: J.R. Moehringer
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Alkohol. Steves Vater, ein Heineken-Vertreiber, war früh gestorben und hatte ihm ein kleines Vermögen hinterlassen, als er noch ein Junge war. Steves Tochter hieß Brandy, sein Rennboot Dipsomanie und sein Gesicht leuchtete nach Jahren homerischen Trinkens in einem verräterischen Scharlachrot. Er selbst verstand sich als Rattenfänger des Alkohols, und die betrunkenen Bewohner von Manhasset folgten ihm blind. Im Laufe der Jahre erschloss er sich eine fanatische Gemeinde, eine Legion glühender Verehrer. Steve war Kult.
    Jeder hat einen heiligen Ort, eine Zufluchtsstätte, wo sein Herz reiner und der Verstand klarer ist, wo er sich Gott, der Liebe, der Wahrheit oder dem, was er anbetet, näher fühlt. Mein heiliger Ort war Steves Bar – mit allen Vor- und Nachteilen. Und weil ich sie in meiner Jugend entdeckte, war sie mir umso heiliger und ihr Bild von jener besonderen Ehrfurcht getrübt, die Kinder Orten zugestehen, an denen sie sich geborgen fühlen. Andere hegen solche Gefühle vielleicht für ein Klassenzimmer oder einen Spielplatz, für ein Theater oder eine Kirche, für ein Labor, eine Bibliothek oder ein Stadion. Vielleicht sogar für ein Zuhause. Für mich jedoch hatte keiner dieser Orte eine Bedeutung. Wir erhöhen das, was wir haben. Wäre ich an einem Fluss oder am Meer groß geworden, an einer natürlichen Straße der Selbstentdeckung und Flucht, hätte ich vielleicht sie mythologisiert. Aber ich wuchs 142 Schritte entfernt von einer einzigartigen alten amerikanischen Taverne auf, und das gab den Ausschlag.
    Natürlich verbrachte ich nicht jede Minute in der Bar. Ich zog in die Welt, arbeitete und versagte, verliebte mich, spielte den Idioten, ließ mir das Herz brechen und meine Grenzen testen. Doch Steves Bar ist es zu verdanken, dass ich jede Feuerprobe so empfand, als wäre sie mit der vorherigen und mit der nächsten verbunden, und genauso erging es mir mit jedem Menschen, den ich kennen lernte. In den ersten fünfundzwanzig Jahren meines Lebens wurde ich von jedem, den ich kannte, in die Bar geschickt, zur Bar gefahren, zur Bar begleitet, aus der Bar gerettet oder jemand war in der Bar, wenn ich ankam, so als hätte er seit meiner Geburt auf mich gewartet. Zu dieser letzten Gruppe gehörten Steve und die Männer.
    Früher sagte ich oft, in Steves Bar hätte ich die Väter gefunden, die ich brauchte, aber das stimmte nicht ganz. Irgendwann wurde die Bar selbst mein Vater, und die vielen Männer in ihr verschmolzen zu einem gewaltigen männlichen Auge, das mir über die Schulter blickte und mir die nötige Alternative zu meiner Mutter bot, das Y-Chromosom zu ihrem X. Meine Mutter wusste nicht, dass sie mit den Männern in der Bar rivalisierte, und die Männer wussten nicht, dass meine Mutter ihre Konkurrenz war. Sie setzten voraus, dass sie auf der gleichen Seite standen, weil sie alle eine überholte Vorstellung von Männlichkeit pflegten. Meine Mutter und die Männer hielten es für eine Kunst, ein guter Mann, und eine Tragödie, ein schlechter Mann zu sein – für die Welt ebenso wie für jeden, der von dem fraglichen Mann abhängt. Mit diesem Gedanken machte mich zuerst meine Mutter bekannt, doch im Dickens sah ich ihn Tag für Tag bestätigt. In Steves Bar tauchten auch alle möglichen Frauen auf, eine fantastische Vielzahl, doch als Junge nahm ich nur das unglaubliche Sammelsurium von guten und schlechten Männern wahr. Während ich mich ungehemmt unter dieser Bruderschaft von Alphas bewegte und den Geschichten der Soldaten und Baseballspieler, Dichter und Polizisten, Millionäre und Buchmacher, Schauspieler und Schwindler lauschte, hörte ich sie immer wieder sagen, dass die Unterschiede zwischen ihnen groß, die Gründe jedoch, weshalb sie so unterschiedlich geworden waren, nur geringfügig seien.
    Eine Lektion, eine Geste, eine Geschichte, eine Philosophie, eine Haltung – ich nahm von jedem Mann in Steves Bar etwas mit. Ich war ein Meister im »Identitätsdiebstahl«, was damals noch ein harmloses Vergehen war. Ich wurde sarkastisch wie Cager, melodramatisch wie Onkel Charlie, ein Grobian wie Joey D. Ich wollte solide sein wie Bob the Cop, cool wie Colt, und meine Wut rechtfertigte ich, indem ich mir einredete, sie sei auch nicht schlimmer als der selbstgerechte Zorn eines Smelly. Irgendwann wandte ich alles, was ich im Dickens gelernt hatte, bei Leuten an, die mir außerhalb der Bar begegneten – bei Freunden, Geliebten, Eltern, Vorgesetzten und sogar Fremden. Die Bar förderte in
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