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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar
Autoren: J.R. Moehringer
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und die Fans auf der Tribüne auch nicht. Ich lachte am meisten, obwohl ich den Witz nicht verstand. Ich lachte über das Lachen der Männer und über ihr witziges Timing, so flüssig und geschmeidig wie bei einem ihrer Doppelspiele, wenn sie gleich zwei Gegenspieler rauswarfen.
    »Warum sind die Männer so albern?«, fragte ich meine Mutter. »Sie sind eben – glücklich.«
    »Und warum?«
    Sie musterte die Männer und dachte nach.
    »Bier, mein Liebling. Sie sind glücklich, weil es Bier gibt.«
    Jedes Mal wenn die Männer vorbeirannten, hinterließen sie eine Duftwolke. Bier. Aftershave. Leder. Tabak. Haarwasser. Ich atmete tief ein, prägte mir das Aroma ein, den Extrakt. Wann immer ich seitdem ein Fässchen Schaeffer roch, eine Flasche Aqua Velva, einen frisch eingeölten Baseballhandschuh von Spalding, eine glimmende Lucky Strike, einen Flakon Vitalis, war ich wieder dort, neben meiner Mutter, und sah jene bierseligen Riesen übers Spielfeld stolpern.
    Dieses Softballspiel markierte für mich den Beginn vieler Dinge, vor allem aber einer bestimmten Zeit. Meine Erinnerungen vor dem Spiel sind irgendwie zusammenhanglos und bruchstückhaft; danach sind sie klar, geordnet und nach vorn orientiert. Vermutlich musste ich die Bar finden, eines der beiden strukturierenden Prinzipien meines Lebens, bevor ich mein Leben linear und zusammenhängend erzählen konnte. Ich weiß noch, wie ich mich dem anderen strukturierenden Prinzip in meinem Leben zuwandte und sagte, ich möchte den Männern für immer zusehen. Das geht nicht, Schatz, sagte sie, das Spiel ist vorbei. Was? Ich stand verstört da. Die Männer verließen das Spielfeld, legten einander die Arme um die Schultern. Als sie zwischen den Sumachbäumen am Memorial Field verschwanden und einander zuriefen: »Bis später im Dickens«, fing ich zu weinen an. Ich wollte ihnen folgen.
    »Warum?«, fragte meine Mutter.
    »Ich will wissen, was so lustig ist.«
    »Wir gehen nicht in die Bar«, sagte sie. »Wir fahren – heim.«
    Über dieses Wort stolperte sie immer.
    Meine Mutter und ich wohnten bei meinem Großvater, dessen Haus in Manhasset als Sehenswürdigkeit galt, die fast so berühmt war wie Steves Bar. Die Leute fuhren oft vorbei und zeigten darauf; einmal hörte ich einen Passanten mutmaßen, das Haus müsse an irgendeiner »schmerzlichen Hauskrankheit« leiden. Aber worunter es wirklich litt, waren Vergleiche. Unter den eleganten viktorianischen Villen und schmucken Häusern im niederländischen Kolonialstil wirkte Opas baufällige CapeCod-Klitsche doppelt scheußlich. Opa behauptete, er könne sich keine Reparaturen leisten, aber eigentlich war es ihm nur egal. In einer Mischung aus Trotz und perversem Stolz nannte er sein Haus das Scheißhaus, und es kümmerte ihn einen feuchten Kehricht, als das Dach langsam einsank wie ein Zirkuszelt. Er nahm es kaum wahr, als die Farbe in spielkartengroßen Stücken abblätterte. Er gähnte Oma an, als sie auf den gezackten Riss in der Einfahrt hinwies, der aussah, als hätte der Blitz eingeschlagen – und so war es auch. Meine Cousinen hatten gesehen, wie der Blitzstrahl die Einfahrt entlang zischte und knapp den überdachten Laufgang verfehlte. Sogar Gott, dachte ich, zeigt auf Opas Haus.
    Unter diesem durchhängenden Dach wohnten meine Mutter und ich mit Opa, Oma, den beiden erwachsenen Geschwistern meiner Mutter – Onkel Charlie und Tante Ruth – und Tante Ruths fünf Töchtern und einem Sohn. »Niedergedrückte Massen, die sich danach sehnen, mietfrei zu wohnen«, nannte Opa uns in Anlehnung an den Text der Freiheitsstatue. Während Steve seine öffentliche Zufluchtsstätte an der Plandome Road 550 schuf, führte Opa in Nummer 646 eine Bruchbude.
    Opa hätte sich guten Gewissens auch eine Silhouette von Charles Dickens über die Haustür nageln können, denn die Lebensbedingungen bei ihm waren denen in einem Dickens’schen Armenhaus nicht unähnlich. Mit nur einem brauchbaren Badezimmer und zwölf Personen gab es oft qualvoll lange Wartezeiten, und die Sickergrube lief ständig über (»Scheißhaus« war manchmal mehr als nur ein frivoler Spitzname). Jeden Morgen ging das heiße Wasser mitten in der zweiten Dusche aus, gab noch einen kurzen Gastauftritt in der dritten und neckte die Person, die an vierter Stelle duschte, bevor es sie grausam im Stich ließ. Das Mobiliar, von dem ein Großteil in die dritte Amtszeit von Franklin Roosevelt zurückdatierte, wurde mit massenhaft Klebeband und noch mehr Klebeband
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