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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar
Autoren: J.R. Moehringer
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mir die Angewohnheit, in jedem Menschen, der mir über den Weg lief, einen Mentor oder eine Persönlichkeit zu sehen, und ich halte es der Bar zugute und werfe ihr zugleich vor, dass ich von allen ein Spiegelbild oder eine Brechung wurde.
    Die Stammgäste in Steves Bar mochten Metaphern. Ein alter Bourbon-Trinker erklärte mir, im Leben eines Mannes drehe sich alles um Berge und Höhlen – Berge müssen wir erklimmen, und in Höhlen verstecken wir uns, wenn wir den Bergen nicht gewachsen sind. Für mich war die Bar beides. Meine opulente Höhle, mein gefährlicher Berg. Und die Männer, in ihrem Innersten zwar Höhlenmenschen, waren meine Sherpas. Ich liebte sie sehr, und ich glaube, das wussten sie. Sie hatten schon alles erlebt – Krieg und Liebe, Ruhm und Schande, Reichtum und Ruin – aber ich glaube nicht, dass ihnen jemals ein Junge begegnet war, der sie mit derart leuchtenden Augen ansah und vergötterte. Meine Hingabe war etwas Neues für sie, und ich nehme an, darum liebten sie mich auf ihre Art, was vermutlich auch der Grund war, weshalb sie mich, als ich elf war, entführten. Aber jetzt kann ich förmlich ihre Stimmen hören. Halt, Kleiner, du greifst vor.
    Steve hätte es mich so ausdrücken lassen: Ich verliebte mich in seine Bar, und meine Liebe wurde erwidert, und diese Romanze formte alle meine anderen. Als ich im zarten Knabenalter im Dickens stand, kam ich zu dem Schluss, das Leben sei eine Abfolge von Romanzen, und jede neue Romanze eine Reaktion auf eine vorherige. Doch ich war nur einer von vielen Romantikern in Steves Bar, der zu diesem Schluss gelangte und an eine Kettenreaktion der Liebe glaubte. Dieser Glaube und die Bar verbanden uns. Aus diesem Grund ist meine Geschichte nur ein Faden in dem Strang, der alle unsere Liebesgeschichten miteinander verflocht.
     

 

TEIL I
     
     
     
    Es schlummert unendlich viel in jedem Menschen; man darf es nur nicht vergeblich wecken. Denn furchtbar ist es, wenn der ganze Mensch von Echos und Echos widerhallt und aus keinem eine rechte Stimme wird.
     
    – Elias Canetti, Nachträge aus Hampstead
     

 

1 | DIE MÄNNER
     
    Falls es einem Mann möglich ist, seine Entwicklung vom kleinen Jungen zum Kneipengänger genau aufzuzeigen, dann begann meine an einem heißen Sommerabend 1972. Ich war sieben, fuhr mit meiner Mutter durch Manhasset und sah aus dem Fenster, als ich auf dem Memorial Field neun Männer in hellroten Softballtrikots herumrennen sah, auf deren Brust die schwarze Siebdruck-Silhouette von Charles Dickens prangte. »Wer ist das?«, fragte ich meine Mutter.
    »Ein paar Männer aus dem Dickens«, sagte sie. »Siehst du deinen Onkel Charlie? Und seinen Chef Steve?«
    »Können wir zuschauen?«
    Sie hielt an, und wir suchten uns Plätze auf der Tribüne.
    Die Sonne ging unter, und die Männer warfen lange Schatten, die aussahen, als wären sie aus der gleichen schwarzen Tinte wie die Silhouetten auf ihrer Brust. Außerdem zeigten die Männer Speckgürtel, die den Stoff ihrer riesigen Trikots spannten, bis die Silhouetten nur noch flirrenden Flecken glichen, weil die Männer ständig umherrasten. Alles an diesen Männern wirkte irgendwie surreal und karikaturenhaft. Mit ihrem spärlichen Haarwuchs, den riesigen Schuhen und überentwickelten Oberkörpern erinnerten sie an Blutos und Popeyes, an Elmer Fudds auf Steroiden, nur mein langer, dünner Onkel Charlie nicht, der wie ein Flamingo mit Knieschaden über das Infield stelzte. Ich weiß noch, dass Steve einen Holzschläger schwang, so lang wie ein Telegrafenmast, und bei jedem Home Run, den er schlug, hing der Ball wie ein zweiter Mond am Himmel.
    Steve stand auf dem Schlagmal, ein Babe Ruth der Bierliga, scharrte im Staub und knurrte den Werfer an, er möge ihm einen Ball geben, den er zermalmen könne. Der Werfer wirkte verängstigt und vergnügt zugleich, denn Steve blaffte ihn zwar an, grinste dabei jedoch die ganze Zeit. Sein Lächeln war wie das Licht aus einem Leuchtturm – man fühlte sich sofort ein bisschen sicherer. Aber es war auch ein Befehl. Es gebot jedem, ebenfalls zu lächeln. Es war unwiderstehlich, nicht nur für die in seiner unmittelbaren Umgebung. Und Steve selbst konnte offenbar gar nicht anders – er musste seine Zähne zeigen.
    Steve und die Männer aus dem Dickens waren leidenschaftliche Kämpfer, aber das Spiel stand ihrem wichtigsten Ziel im Leben – dem Lachen – nie im Weg. Egal wie das Spiel stand, sie hörten nie zu lachen auf, sie konnten nicht aufhören,
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