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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar
Autoren: J.R. Moehringer
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Verwunderung jenen langen seltsamen Heimweg, auf dem meine Mutter einen halben Schritt hinter ihr ging, die Hand steif in die Luft gereckt. Oma schickte meine Mutter ins Bett – etwas anderes fiel ihr nicht ein – und am nächsten Morgen, als Traurigkeit und Enttäuschung vermutlich gewichen waren, sank ihr Arm wieder herunter.
    Meine Mutter war von Natur aus rätselhaft, doch ihre Rätselhaftigkeit war zum Teil auch Absicht. Sie war der ehrlichste Mensch, den ich jemals kannte, aber auch eine herrliche Lügnerin. Um mir nicht wehzutun oder um schlechte Nachrichten abzumildern, schwindelte und fantasierte sie ohne mit der Wimper zu zucken. Ihre Lügen waren so ausgeklügelt und derart geschickt erzählt, dass ich nie den geringsten Zweifel an ihnen hegte. So kommt es, dass ich noch heute, wenn ich gelegentlich in meinen Kindheitserinnerungen stöbere, auf die eine oder andere Lüge meiner Mutter stoße, gleich einem kunstvoll bemalten Osterei, das zu gut versteckt und dann vergessen wurde.
    Die erste Lüge, an die ich mich erinnere, kam zustande, als meine Mutter und ich in eine kleine Wohnung zogen, fünf Minuten entfernt von Opas Haus. Endlich, sagte sie, sind wir entkommen. Sie war laut, aufgekratzt und glücklich, bis sie eines Tages entlassen wurde. Schon bald fand ich Lebensmittelmarken in ihrer Handtasche. »Was ist das?«, fragte ich.
    »Gutscheine«, antwortete sie fröhlich.
    Ich sollte nicht wissen, dass wir pleite waren. Ich sollte mir nicht noch mehr Sorgen machen als ohnehin schon. Und deswegen log sie auch, als ich sie fragte, ob wir uns einen Fernseher kaufen könnten. »Weißt du, ich wollte schon lange einen kaufen«, sagte sie. »Aber leider sind die Fernsehhersteller im Streik.«
    Wochenlang löcherte ich sie wegen des Fernsehstreiks, und sie erfand aus dem Stegreif ausführliche Geschichten über Streikposten vor der Fabrik und abgebrochene Verhandlungen. Als sie genug für einen gebrauchten Schwarzweiß-Fernseher gespart hatte, kam sie zu mir und verkündete, die Geschäftsleitung hätte klein beigegeben. Jahrelang war ich überzeugt, bei den Fernsehherstellern auf Long Island sei es zu einer erbitterten Arbeitsniederlegung gekommen, bis ich bei irgendeiner Abendeinladung den Leuten davon erzählte und komische Blicke erntete.
    Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn meine Mutter bei einer Lüge erwischt wurde, reagierte sie erfrischend gleichgültig. Sie habe eine »Beziehung« mit der Wahrheit, erklärte sie trocken, und dies erfordere, wie in allen Beziehungen, bisweilen Kompromisse. Lügen, so ihre Überzeugung, war keine größere Sünde als das Radio leiser zu stellen, um mich vor der Stimme zu schützen. Sie drehte lediglich die Wahrheit etwas leiser.
    Ihre genialste Lüge markierte einen Meilenstein in unserer Beziehung, denn sie betraf meinen am meisten geliebten Besitz, meine Kuscheldecke. Neben der Stimme war die Decke – mintgrüner Satin, abgesteppt mit dickem weißem Faden – meine andere Sucht. Wenn sie nicht in Reichweite war, wurde ich nervös. Ich trug sie als Poncho, als Schärpe, als Schal und manchmal als Brautschleier. Für mich war meine Decke ein treuer Freund in einer harten Welt, während meine Mutter darin eine sich im Werden befindende emotionale Störung sah. Mit sieben war ich zu alt für eine Kuscheldecke, appellierte sie an meine Vernunft, doch was konnte Vernunft schon gegen leidenschaftliche Liebe ausrichten? Sie wollte mir die Decke wegnehmen, aber ich heulte, als wollte sie mir den Arm abhacken. Schließlich wachte ich eines Nachts auf, und sie saß auf dem Bettrand. »Was ist los?«, fragte ich.
    »Nichts. Schlaf nur weiter.«
    Im Laufe der nächsten Wochen fiel mir auf, dass meine Kuscheldecke immer kleiner wurde. Ich fragte meine Mutter. »Vielleicht ist sie beim Waschen eingegangen«, sagte sie. »Nächstes Mal wasche ich sie nicht mehr so heiß.« Viele Jahre später erfuhr ich, dass meine Mutter jede Nacht in mein Zimmer geschlichen war und mit der Schere Stück für Stück von meiner Kuscheldecke abgeschnitten hatte, bis sie nur noch ein Kuscheltuch, ein Kuschelwaschlappen, ein Kuschelstreifen war. Später gab es noch weitere Kuscheldecken – Menschen, Pläne, bestimmte Orte –, zu denen ich ungesunde Beziehungen aufbauen sollte. Sobald mir das Leben eine davon entriss, musste ich daran denken, wie sanft meine Mutter mich von meiner ersten getrennt hatte.
    Der einzige Punkt, in dem meine Mutter nicht lügen konnte, war ihre tiefe Abneigung gegen Opas
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