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Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)

Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)

Titel: Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)
Autoren: Leif Randt
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    Weil es der fünfundsechzigste Geburtstag meiner Mutter ist, stehen Senioren in beigefarbenen Regenmänteln auf der Dachterrasse. Am Himmel haben sich Wolken aufgetürmt, es nieselt ganz leicht. Meine Mutter spricht zur Begrüßung ein paar Worte und verweist auf die Bar. Dort stehe ich und winke. Für mich ist nicht auszumachen, welche der anwesenden Gäste Freunde meiner Mutter und welche normale Kururlauber sind. Die meisten wirken sympathisch auf mich, weil ihnen die schnell ausgetrunkenen Aperitifs fürsorglich glänzende Augen gemacht haben. Für diese Leute scheine ich noch ein Junge zu sein. Dabei bin ich schon seit sieben Monaten mit dem Studieren fertig, dabei verdiene ich schon Geld, dabei trage ich ein qualitativ hochwertiges Hemd. Das Hotel gehört dem Lebensgefährten meiner Mutter, er heißt Tom O’Brian und geht gelassen auf seinem eigenen Dach spazieren. Tom ist erst siebenundfünfzig. Manchmal kommt er an der Bar vorbei und macht Sprüche: »Na, Wim, trinken wir einen Wodka-Apfelsaft zusammen?« Wodka-Apfelsaft: das ist so ein Running Gag zwischen uns, seitdem ich mich vor sieben Jahren einmal in der Lobby übergeben musste. Es war nicht als Kritik an Tom O’Brian gemeint, es war schlicht ein Versehen, mir war im doppelstöckigen Linienbus schwindlig geworden und dann hatte ich die Strecke zum Bad unterschätzt. Ich greife unter die Theke und reiche Tom ein Bier aus der Kühlbox. Er hat schmale Schultern und trägt ein Feinkordjackett, dazu helle Jeans und Wildlederboots. Bevor er weitergeht, klatschen wir uns ab, so wie ich früher in der Highschool meine engen Freunde abgeklatscht habe, demonstrativ und leicht verspannt. Den Hotelturm hat Tom vor elf Jahren erbaut, mit meiner Mutter ist er seit sieben Jahren zusammen, sie erarbeitet Marketingkonzepte, die den Nerv diverser Altersgruppen treffen. Selbst manche meiner Freunde checken im Frühling gelegentlich hier ein. Ich habe damit kein Problem, denn ich liebe ja Tom O’Brian und den Hotelturm und meine Mutter. In ihrem engen Hosenanzug und mit der klassischen Kurzhaarfrisur sieht sie leicht unterkühlt und sehr elegant aus. Im Laufe des frühen Abends frage ich sie, wie viele der Leute auf dem Dach sie schon einmal persönlich kennengelernt habe. Sie schaut sich um und sagt: »Gefühlte achtunddreißig Prozent.« Meine Mutter lebt seit über vierzig Jahren in CobyCounty, ich glaube, dass sie dabei immer ehrlich zu sich selbst war. Ich gieße ihr ein Glas mit Pepsicola voll. Die meisten ihrer Gäste bestellen leichte Mischgetränke und es kommt mir so vor, als würden die älteren Leute in CobyCounty wieder so trinken wie die Alkoholanfänger in CobyCounty. Als schließe sich da ein Kreis, und als seien die verschiedenen Altersgruppen in unserer Stadt freundschaftlich miteinander verwoben. Andererseits kann ich die Anwesenden gar nicht mit gutem Gewissen als ›ältere Leute‹ beschreiben, vielmehr sind es ›vitale Frauen und Männer in ihren späten sechziger Jahren‹ . Viele von ihnen müssen wie meine Eltern als Zwanzigjährige nach CobyCounty gekommen sein, um zuerst Filmfirmen oder Verlage zu gründen und später Konzeptgastronomien zu eröffnen. Plötzlich denke ich, dass diese adretten Erwachsenen, die nun mit ihren glasigen Augen vor mir auf dem Dach herumstehen, wahrscheinlich einmal junge Avantgardisten gewesen sind. Als sich der Nieselregen zu einem Sturzschauer verdichtet, strecken viele von ihnen sofort ihre Arme zum Himmel und beginnen zu tanzen. Sie bewegen sich so, als würden sie sich alle zeitgleich an alte Camcorderaufnahmen von ihren früheren Tänzen im Regen erinnern. Meiner Mutter läuft Wasser aus den kurzen Haaren über das Gesicht, sie lacht und ruft die Leute ins Innere des Hotels. Die Bar, hinter der ich stehe, ist mit einer Plane überspannt, ich höre den Regen darauf eintrommeln und räume Weißweinflaschen in die Kühlbox. Bald klingt der Regen wie Hagel und die Plane flattert im Sturm. Wenig später trage ich ich die Box vor mir her ins Gebäude, noch fünf Senioren tanzen durchnässt übers Dach. Ich nicke ihnen zu. Aggressive Unwetter wie dieses sind Anfang Februar völlig normal, meine Mutter ist gut darauf vorbereitet.
    In den Suiten im neunten Stock werden die nassen Kleider abgestreift und heiße Bäder genommen. Einige der Gäste machen sich nun sicher einen Partyspaß daraus, den Schaum durch die Badezimmer zu wirbeln. Ich stehe mit blanken Fußsohlen auf den beheizten Fliesen von Suite 914.
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