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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann
Autoren: Haruki Murakami
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verschmolzen. Die Finsternis hatte sich noch verstärkt.
    »Yumiyoshi!«, rief ich erneut.
    »Siehst du, ganz einfach«, hörte ich Yumiyoshis dumpfe Stimme hinter der Wand sagen.
    »Wirklich. Du brauchst die Wand nur zu durchdringen, dann bist du gleich drüben.«
    »Das ist nicht wahr«, schrie ich aufgebracht. »Es sieht nur so aus. Aber wenn du einmal drüben bist, kommst du nicht mehr zurück. Du hast keine Ahnung! Drüben ist es anders. Dort ist nicht die Wirklichkeit. Es ist das Jenseits . Und das ist ganz anders als die Welt auf dieser Seite.«
    Keine Antwort. Erneut herrschte ein tiefes Schweigen im Raum. So drückend, als wäre ich tief unten am Meeresboden. Yumiyoshi ist verschwunden. Meine Hand greift ins Leere. Die Wand trennt uns. Es ist zu grausam. Ein Gefühl von Ohnmacht. Zu grausam. Sie und ich, wir müssen uns hier im Diesseits befinden. Dafür habe ich mich doch so angestrengt. Dafür habe ich all die komplizierten Schritte vollzogen.
    Zum Nachdenken war keine Zeit. Nur nicht trödeln. Ich schritt auf die Wand zu, um Yumiyoshi zu folgen. Mir blieb keine andere Wahl. Denn ich liebte Yumiyoshi. Ich durchdrang die Wand. Es war genauso wie damals mit Kiki. Eine undurchsichtige Luftschicht. Sie fühlte sich hart und rau an. Kalt wie Wasser. Die Zeit schwankte, die Kontinuität war verdreht, die Schwerkraft erschüttert. Mir war, als waberten uralte Erinnerungen wie Dampf aus dem Abgrund der Zeit herauf. Mein genetisches Erbe. In meinen Zellen spürte ich die extreme Spannung der Evolution. Ich durchlief die komplexe Struktur meiner eigenen überdimensionalen DNA. Die Erde expandierte, erkaltete und zog sich zusammen. Das Schaf lauerte in der Höhle. Der Ozean war eine gigantische Idee. Auf seine Oberfläche tropfte lautlos Regen. Gesichtslose Menschen standen am Strand und schauten aufs Meer. Die endlose Zeit wurde zu einem riesigen Knäuel, das sichtbar in der Luft schwebte. Das Nichts verschluckte die Menschen, und ein noch größeres Nichts verschluckte das Nichts. Das Fleisch schmolz von den Körpern und legte die blanken Knochen frei, wurde zu Staub, vom Wind verweht. Absolut tot , sagte jemand. Kuckuck, sagte ein anderer. Mein Körper löste sich auf, zerbarst und setze sich neu zusammen. Als ich die Luftschicht dieses chaotischen Tohuwabohus durchdrungen hatte, lag ich im Bett – nackt. Es war stockdunkel. Keine rabenschwarze Finsternis, aber ich konnte nichts sehen. Ich war allein. Ich griff neben mich, aber es war niemand da. Mutterseelenallein. Ausgesetzt am Rande der Welt. Ich war wieder ganz allein zurückgeblieben.
    »Yumiyoshi!«, schrie ich aus Leibeskräften. Doch tatsächlich brachte ich keinen Ton hervor, nur meinen rasselnden Atem. Ich wollte erneut schreien, doch da hörte ich ein Knipsen.
    Die Stehlampe brannte. Im Zimmer war es hell.
    Yumiyoshi war da. Sie saß angezogen – Rock, weiße Bluse, schwarze Schuhe – auf dem Sofa und lächelte mich zärtlich an. Ihr hellblauer Blazer hing wie ein Doppelgänger von ihr über der Stuhllehne. Ich spürte, wie die Starre langsam aus meinem Körper wich, als lockere sich eine Schraube. Meine rechte Hand krallte sich immer noch krampfhaft in das Laken. Ich ließ los und wischte mir den Schweiß vom Gesicht. Bin ich tatsächlich im Diesseits, fragte ich mich. Ist dieses Licht echt?
    »He, Yumiyoshi«, sagte ich heiser.
    »Was denn?«
    »Bist du wirklich da?«
    »Aber sicher«, sagte sie.
    »Bist du nirgendwohin verschwunden?«
    »Nein, ich bin nicht verschwunden. So einfach verschwinden Menschen nicht.«
    »Ich habe wohl geträumt«, sagte ich.
    »Ich weiß. Ich habe dich die ganze Zeit beobachtet. Wie du im Schlaf meinen Namen gerufen hast. Im Dunkeln. Wenn man wirklich versucht, etwas zu sehen, kann man auch im Dunkeln etwas erkennen, nicht wahr?«
    Ich schaute auf die Uhr. Es war kurz vor vier. Noch ein Stündchen bis zur Morgendämmerung. Die Zeitspanne, in der Gedanken sich vertiefen und verzerren. Mein Körper fühlte sich noch immer kalt und starr an. War das wirklich nur ein Traum gewesen? In jener Dunkelheit gab es keinen Schafsmann mehr, und Yumiyoshi war ebenfalls verschwunden. Ich konnte mich genau an die verzweifelte, ausweglose Einsamkeit erinnern. An die Berührung von Yumiyoshis Hand. Ein bleibender Eindruck. Noch realer als diese Wirklichkeit. Meine Realität hatte noch nicht ausreichend Substanz zurückgewonnen.
    »Sag, Yumiyoshi …«
    »Was denn?«
    »Wieso bist du angezogen?«
    »Ich wollte bekleidet sein, wenn ich
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