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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann
Autoren: Haruki Murakami
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leicht verzerrt, sodass man seinen Kopf jedesmal um einige Grade zur Seite neigen muss, will man irgendwas anschauen. Die Verrenkung geht nie so weit, dass man ernstlich Schaden nehmen oder komisch wirken würde. Aber wer weiß? Wenn man lange genug hier zubrächte, würde man sich vielleicht daran gewöhnen. Eine ganz unauffällige Anomalie. Nur wird man die normale Welt dann nie wieder betrachten können, ohne den Kopf zu verdrehen.
    Das also war das Hotel Delfin. Von Normalität keine Spur. Eine Konfusion jagte die nächste, bis der Sättigungsgrad erreicht war, um bald darauf vom Strudel der Zeit mitgerissen zu werden. Ein Blick genügte, und man war im Bilde. Ein erbärmliches Hotel. Erbärmlich wie ein dreibeiniger schwarzer Hund, der triefend im Dezemberregen steht. Heruntergekommene Hotels gibt es überall, ohne Frage, aber das Delfin stellte eine Klasse für sich dar. Dieses Hotel war von Grund auf erbärmlich. Es übertraf sich selbst.
    Außer jenen arglosen Menschenseelen, die sich dorthin verirrten, würde natürlich niemand freiwillig dort absteigen. Doch zwischen seinem Namen (ich würde zu DELFIN eher ein schneeweißes Kurhotel im Zuckerbäckerstil an der Ägäis assoziieren) und dem tatsächlichen Eindruck, den es vermittelt, klaffte ein himmelweiter Unterschied. Ohne das Schild draußen am Portal wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, dass es sich um ein Hotel handelte. Und auch mit dem Schild sah es kaum danach aus. Es wirkte eigentlich mehr wie ein Museum. Ein Kuriositätenkabinett, in das sich Leute mit skurrilen Vorlieben hineinstehlen, um sonderbare Ausstellungsstücke zu betrachten.
    Dieser Vergleich, der sich einem bei seinem Anblick aufdrängen mochte, war keinesfalls so abwegig. Ein Teil des Hotels ähnelte tatsächlich einem Museum. Ich frage mich allerdings, wer freiwillig in solch einem Loch absteigen würde, das ein Sammelsurium von Dingen beherbergt: ausgestopfte Schafe und muffige Felle in düsteren Korridoren, schimmlige Akten und verblichene Fotografien. Ein Hotel voll unerfüllter Träume, die wie verkrusteter Schlamm in den Ecken klebten.
    Sämtliche Möbel waren verschlissen, jeder Tisch wackelte, kein Schloss funktionierte. Abgewetzte Korridore in trüber Beleuchtung. Die Stöpsel in den Waschbecken so verzogen, dass das Wasser im Nu durchsickerte. Das Zimmermädchen, eine Tonne, die auf Elefantenbeinen durch die Korridore walzte und unheilvoll hustete. Dann der traurig blickende Besitzer mittleren Alters, dem zwei Finger fehlten und der seinen Platz an der Rezeption nie zu verlassen schien. Ein Typ, dem man sofort ansah, dass ihm immer alles schief ging. Ein Musterexemplar seiner Gattung: nach einem Tag Einweichen in verdünnter blauer Tinte hervorgezogen, in seiner Existenz stigmatisiert von Misserfolg, Versagen, Niederlagen. Man könnte ihn in eine Vitrine mit der Aufschrift Homo nihilsuccessus sperren und in einer Naturkundeklasse ausstellen. So ziemlich jeden würde der Anblick dieser Kreatur mehr oder weniger bedrücken, wenn nicht gar empören. Man könnte auch regelrecht zornig werden. Wer also würde schon freiwillig in einem solchen Hotel absteigen?
    Nun, wir hatten uns dort einquartiert. Da übernachten wir, hatte sie gesagt. Und auf einmal war sie verschwunden. Hatte mich einfach sitzen lassen. Es war der Schafsmann, der mir die Nachricht überbrachte. Sie ist weg, hatte er mir gesagt. Ihm war bekannt, dass sie weg musste. Inzwischen ist mir das auch klar. Sie hatte mich absichtlich hierhergelotst. Als wäre es ihr Ziel, ihre Bestimmung gewesen. So wie die Moldau ins Meer fließt. Die Assoziation kam mir beim Anblick der Regentraufe. Schicksal.
    Als ich anfing, vom Hotel Delfin zu träumen, kam sie mir als Erstes in den Sinn. Sie sucht nach mir, dachte ich unwillkürlich. Weshalb sollte ich sonst diesen Traum haben, immer und immer wieder?
    Sie. Ich kenne nicht einmal ihren Namen. Obwohl wir monatelang zusammengelebt hatten. Ich weiß eigentlich überhaupt nichts von ihr, außer dass sie zum Personal eines exklusiven Callgirlclubs gehörte. Eines Etablissements nur für Mitglieder, Personen mit untadeligem Ruf. Sie war eine Edelnutte. Nebenbei hatte sie noch eine Reihe anderer Jobs. Während der normalen Geschäftszeiten arbeitete sie als Korrektorin bei einem kleinen Verlag und war außerdem Ohren-Fachmodell für Werbefotos. Mit anderen Worten, sie führte ein ziemlich geschäftiges Leben. Natürlich hatte sie auch einen Namen, wohl sogar eine ganze Reihe. Und
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