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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann
Autoren: Haruki Murakami
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türmten sich Stapel alter Bücher, und auf dem kleinen Tisch stand als Kerzenuntersatz ein Tellerchen mit einem heruntergebrannten Stummel von etwa fünf Zentimetern. Ich holte mein Feuerzeug hervor und zündete ihn an, dann knipste ich die Taschenlampe aus und steckte sie in die Jackentasche.
    Vom Schafsmann keine Spur.
    Wo mochte er sein?
    »Wer wohnt hier eigentlich?«, fragte mich Yumiyoshi.
    »Der Schafsmann«, erwiderte ich. »Er verwaltet diese Welt. Hier ist der Knotenpunkt. Er verknüpft für mich alle möglichen Dinge miteinander. Wie an einer Fernmeldeschalttafel. Er trägt ein Schaffell und ist uralt. Das hier ist seine Behausung, in der er sich versteckt.«
    »Wovor versteckt er sich denn?«
    »Tja, wenn ich das wüsste. Vor dem Krieg vielleicht. Vor der Zivilisation, vor dem Gesetz, vor dem System … Vor allem Möglichen, was nicht schafsmännisch ist.«
    »Und jetzt ist er fort, nicht wahr?«
    Ich nickte, wobei der überdimensionale Schatten an der Wand gewaltig bebte. »Ja, er ist fort. Obwohl er eigentlich hier sein müsste.« Ich hatte das Gefühl, am Rande der Welt zu sein, so wie ihn sich die Menschen im Altertum vorgestellt hatten. Wo alles in einen Wasserfall mündet und in den Hades hinabstürzt. Wir standen direkt auf der Kippe. Nur wir beide ganz allein. Vor uns gähnte das Nichts. Ein tiefschwarzes ausgedehntes Vakuum. Die Eiseskälte im Zimmer drang bis ins Mark. Über unsere Hände tauschten wir gerade noch die lebensnotwendige Wärme aus.
    »Vielleicht ist er tot«, sagte ich.
    »Hör auf, hier im Dunkeln schwarz zu malen. Du solltest die Dinge etwas heiterer sehen«, erwiderte Yumiyoshi. »Er ist wahrscheinlich nur einkaufen gegangen. Vielleicht ist sein Kerzenvorrat erschöpft.«
    »Oder er holt seine Steuerrückzahlung ab«, setzte ich hinzu. Ich leuchtete ihr Gesicht an und sah, dass ein kleines Lächeln ihren Mund umspielte. Dann knipste ich die Taschenlampe aus und zog Yumiyoshi im schwachen Schein der Kerze an mich. »Hör mal, an deinen freien Tagen fahren wir irgendwo hin, ja?«
    »Klar«, sagte sie.
    »Ich komme mit meinem Subaru. Ist zwar gebraucht und hat schon etliche Jahre auf dem Buckel, ist aber ein prima Wagen. Ich mag ihn. Ich bin mal einen Maserati gefahren, aber der Subaru ist viel besser. Ich schwör’s dir.«
    »Natürlich.«
    »Er hat sogar Klimaanlage und Stereo.«
    »Mehr kann man sich nicht wünschen.«
    »Mehr kann man sich nicht wünschen«, sagte ich. »Mit dem können wir überall herumkutschieren. Und uns was angucken.«
    »Klingt gut.«
    Wir standen noch eine Weile eng umschlungen, bevor wir uns voneinander lösten. Ich knipste die Taschenlampe an. Yumiyoshi bückte sich und hob ein schmales Heftchen auf – eine Broschüre mit dem Titel Studie über die Artenzüchtung von Yorkshire-Schafen . Der Einband war vergilbt und mit einer Staubschicht bedeckt, die aussah wie Haut auf erhitzter Milch.
    »Alle Bücher, die hier rumliegen, handeln von Schafen«, erklärte ich. »Ein Teil des alten Delfin diente nämlich als Archiv über Schafzucht. Der Vater des früheren Besitzers war ein Schafforscher. Hier findet man die ganze Sammlung. Sie ist dem Schafsmann offenbar vererbt worden, damit er sie verwaltet. Aber das Zeug ist inzwischen wertlos. Keiner würde das heutzutage noch lesen. Der Schafsmann bewahrt es trotzdem auf. Vielleicht ist es für diesen Ort ein besonderer Schatz.«
    Yumiyoshi nahm mir die Lampe aus der Hand, öffnete das Heftchen und lehnte sich an die Wand, um darin zu lesen. Geistesabwesend stierte ich auf meinen eigenen Schatten und dachte an den Schafsmann. Wohin mochte er verschwunden sein? Und plötzlich befiel mich eine schreckliche Ahnung. Mein Herz schlug mir bis zur Kehle. Etwas ist verkehrt. Gleich wird etwas Entsetzliches geschehen. Aber was? Ich versuchte mich auf dieses Etwas zu konzentrieren. Und mit einem Mal begriff ich. Nein, das darf nicht sein! Yumiyoshi und ich haben uns losgelassen. Wir müssen uns festhalten, unbedingt. Im nächsten Moment brach mir der Schweiß aus allen Poren. Ich streckte hastig die Hand aus, um Yumiyoshi am Handgelenk zu packen. Zu spät. In dem Moment, als ich nach ihr greifen wollte, wurde sie von der Wand verschluckt. Genauso wie Kiki damals in dem Totenkabinett. Yumiyoshis Körper war im Nu verschwunden, wie von Treibsand verschluckt. Sie war fort, und ebenso das Licht der Taschenlampe.
    »Yumiyoshi!«, rief ich gellend.
    Keine Antwort. Schweigen und Kälte herrschten im Zimmer, zu einer Einheit
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