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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann
Autoren: Haruki Murakami
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auch noch nicht. Aber ich bin zuversichtlich.«
    »Niemand weiß, was kommen wird«, sagte sie. »Aber jetzt ist es einfach toll. Supersupertoll.«
    Ich rief erneut den Zimmerservice an und bestellte einen Kübel Eiswürfel. Sie versteckte sich wieder im Bad. Als das Eis da war, holte ich die Miniflasche Wodka und die Flasche Tomatensaft hervor, die ich tagsüber besorgt hatte, und mixte uns zwei Bloody Mary. Es gab zwar keine Zitronenscheiben und keine Worcester-Sauce, aber es kam immerhin eine Bloody Mary dabei heraus. Wir stießen damit an – auf uns. Dazu brauchten wir Hintergrundmusik. Ich schaltete das Radio am Bett ein und wählte den Popmusik-Kanal. Das Mantovani Orchestra spielte die schmeichelnde Melodie von Enchanting Evening . Besser geht’s nicht, dachte ich.
    »Du bist sehr aufmerksam«, sagte Yumiyoshi gerührt. »Ich hatte die ganze Zeit schon Lust auf eine Bloody Mary. Wie konntest du das ahnen?«
    »Wenn ich die Ohren spitze, kann ich sehnsüchtige Stimmen vernehmen, und wenn ich die Augen aufsperre, kann ich Gestalten sehen, die nach etwas verlangen.«
    »Klingt wie ein Motto«, sagte sie.
    »Kein Motto. Nur der Ausdruck meiner Lebenseinstellung«, erwiderte ich.
    »Du würdest einen guten Werbetexter abgeben«, neckte sie mich kichernd.
    Nachdem wir drei Bloody Mary intus hatten, zogen wir uns aus und schliefen miteinander, zärtlich vereint. Einmal, während ich sie in den Armen hielt, meinte ich, das Rumpeln und Rattern des altersschwachen Aufzugs aus dem Delfin zu vernehmen. Ja, hier ist mein Knotenpunkt, dachte ich. Ich bin ein Teil davon. Und vor allem, das hier ist die Wirklichkeit. Alles in Ordnung, ich brauche nirgendwo mehr hin. Ich bin ganz fest verbunden. Habe den Knoten erneuert und mit der Wirklichkeit verknüpft. So habe ich es gewollt, und der Schafsmann hat mich verbunden. Um Mitternacht schliefen wir ein.
    Yumiyoshi rüttelte mich wach. »Steh auf«, flüsterte sie mir ins Ohr. Sie trug ihre Hoteluniform. Draußen war es noch dunkel, und mein Geist befand sich zur Hälfte im warmen Schlamm der Bewusstlosigkeit. Die Nachttischlampe brannte. Der Wecker am Bett zeigte kurz nach drei. Yumiyoshi wirkte todernst, als sie mich an der Schulter wachrüttelte. Zuerst glaubte ich, es sei etwas Unangenehmes passiert. Dass ihr Vorgesetzter sie vielleicht dabei ertappt hatte, wie sie zu mir aufs Zimmer kam. Nachts um drei Uhr in Uniform, was sonst sollte das bedeuten? Und nun? Meine Gedanken bewegten sich keinen Schritt weiter, waren wie blockiert.
    »Steh auf, ich bitte dich. Steh auf«, wisperte sie.
    »Ich stehe ja auf«, sagte ich. »Was ist denn passiert?«
    »Steh einfach auf und zieh dich an.«
    Ohne weitere Fragen zu stellen, stieg ich ganz fix in meine Klamotten: T-Shirt, Bluejeans, Turnschuhe und Windjacke, den Reißverschluss bis oben hin zugezogen. Es dauerte nicht mal eine Minute. Als ich fertig angezogen war, zog Yumiyoshi mich an der Hand zur Tür und öffnete sie einen fingerbreiten Spalt.
    »Schau«, sagte sie. Ich spähte durch die Ritze nach draußen. Der Korridor war stockdunkel, man konnte nichts erkennen. Nur Dunkelheit, dick und kalt wie Gelee. Eine so tiefe Finsternis, dass man befürchten musste, aufgesogen zu werden, wenn man die Hand ausstreckte. Es roch wie damals. Muffig, nach altem Papier. Der Geruch eines Windes, der aus den Tiefen alter Zeiten heraufwehte.
    »Es ist wieder diese Dunkelheit«, flüsterte Yumiyoshi mir ins Ohr.
    Ich fasste sie um die Taille und zog sie an mich. »Alles in Ordnung. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Diese Welt ist für mich bestimmt. Es passiert nichts Schlimmes. Du warst es, die mir zuerst von dieser Dunkelheit erzählt hat. So haben wir uns kennen gelernt.«
    Doch ich war mir selbst nicht sehr sicher. Ich verspürte unweigerlich Angst. Eine irrationale, archaische Angst. Genetisch bedingt, seit Urzeiten vererbt. Dunkelheit mag zwar ihre Daseinsberechtigung haben, löst aber gleichwohl Angst und Widerwillen aus. Sie droht einen zu verschlucken, zu annullieren, zu zerreißen, auszulöschen. Wer hat in totaler Finsternis schon Selbstvertrauen? Die Daseinsberechtigung der Dunkelheit – wer glaubt denn an so was? Im Dunkeln werden Dinge verzerrt, verdreht und ausgelöscht. Das Wesen der Dunkelheit – das Nichts – legt sich über alles.
    »Keine Angst. Es gibt nichts zu befürchten«, beruhigte ich Yumiyoshi erneut, aber ich versuchte mich damit eher selbst zu beschwichtigen.
    »Was nun?«, fragte Yumiyoshi.
    »Wir müssen da
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