Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
Beinen schaute zu mir herüber; sie hatte wohl bemerkt, dass ich sie anstarrte. Ich hätte ihr gern erklärt, dass ich nicht auf ihren Körper schaute, sondern mir nur ihr Skelett vorzustellen versuchte. Natürlich tat ich nichts dergleichen.
    Nach drei Wodka-Soda kehrte ich in mein Zimmer zurück. In der Gewissheit, dass Yumiyoshi existierte, schlief ich wunderbar.
    Es war drei Uhr morgens, als Yumiyoshi zu mir kam. Es klingelte an der Tür. Ich knipste die Nachttischlampe an und sah auf die Uhr. Ich warf mir den Bademantel über und ging arglos an die Tür. Völlig verschlafen, war ich nicht in der Lage, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Und da stand Yumiyoshi in ihrer hellblauen Hoteluniform vor mir. Wie immer huschte sie durch den Spalt ins Zimmer. Ich schloss die Tür. Mitten im Raum blieb sie stehen und atmete tief durch. Dann schlüpfte sie aus ihrem Blazer und legte ihn sorgsam über die Stuhllehne. Wie immer.
    »Siehst du, ich bin nicht verschwunden«, sagte sie.
    »Nein, du bist nicht verschwunden«, wiederholte ich schlaftrunken. Die Grenze zwischen Wirklichem und Unwirklichem war für mich noch so verschwommen, dass ich nicht einmal erstaunt war.
    »So einfach verschwindet man nicht«, sagte Yumiyoshi bedächtig, als wolle sie mich belehren.
    »Das weiß man eben nie. In dieser Welt kann alles passieren. Einfach alles.«
    »Mag sein, aber hier bin ich. Nicht verschwunden. Das musst du doch zugeben, oder?«
    Ich blickte mich im Zimmer um, holte tief Luft und schaute Yumiyoshi in die Augen.
    »Stimmt, offensichtlich bist du nicht verschwunden. Aber was führt dich um drei Uhr nachts zu mir?«
    »Ich konnte nicht schlafen«, sagte sie. »Ich bin zwar gleich nach deinem Anruf eingeschlafen, aber kurz nach eins war ich auf einmal hellwach. Mir ging nicht mehr aus dem Kopf, was du gesagt hast – dass ich einfach so verschwinden könnte. Da habe ich mir ein Taxi bestellt und bin hergekommen.«
    »Aber finden die anderen es denn nicht seltsam, dass du mitten in der Nacht zum Dienst erscheinst?« »Keine Sorge, es ist keinem aufgefallen. Zu dieser Zeit schlafen alle. Es heißt zwar Vierundzwanzig-Stunden-Service, aber um drei Uhr nachts sind eigentlich nur die Mitarbeiter vom Zimmerservice und vom Empfang wach. Wenn man vom Parkdeck unten über den Personaleingang hereinkommt, kriegt das niemand mit. Und selbst wenn mich jemand sähe, weiß bei dem vielen Personal keiner genau, wer Dienst hat und wer nicht. Notfalls kann ich dann immer noch sagen, ich sei hergekommen, um mich im Aufenthaltsraum schlafen zu legen. Das habe ich schon öfter gemacht.«
    »Das hast du schon öfter gemacht?«
    »Ja, wenn ich mal nicht schlafen kann, stehle ich mich ins Hotel und treibe mich hier allein herum. Das beruhigt mich. Klingt komisch, aber mir gefällt das. Ich fühle mich richtig entspannt, wenn ich im Hotel bin. Ich bin deswegen noch nie aufgefallen. Keine Sorge, niemand sieht mich, und falls doch, rede ich mich schon heraus. Wenn sie wüssten, dass ich hier in deinem Zimmer bin, gäbe es natürlich Ärger. Aber sonst nicht. Ich bleibe bis zum Morgen hier, und wenn mein Dienst beginnt, schleiche ich mich hinaus. Okay?«
    »Für mich schon. Wann musst du denn anfangen?«
    »Um acht«, sagte sie. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Noch fünf Stunden.«
    Sie wirkte nervös, als sie die Uhr vom Handgelenk löste und mit einem leisen Klacken auf den Tisch legte. Dann setzte sie sich aufs Sofa, strich ihren Rock glatt, hob den Kopf und sah mich an. Ich saß auf der Bettkante und kam langsam wieder zu mir.
    »Hast du nicht gesagt, du brauchst mich?«, fragte sie.
    »Ganz wahnsinnig«, erwiderte ich. »Alles Mögliche hat eine ganze Umdrehung vollzogen. Sich einmal im Kreis gedreht. Und jetzt brauche ich dich.«
    »Wahnsinnig«, fügte sie hinzu. Und zupfte an ihrem Rock.
    »Ja, ganz wahnsinnig.«
    »Und wo bist du nach der Umdrehung angelangt?«
    »In der Wirklichkeit«, sagte ich. »Es hat ziemlich lange gedauert, aber ich bin in der Wirklichkeit angekommen. Ich musste allerhand absurde Dinge durchstehen. Menschen sind gestorben. Ich habe so manches verloren. Alles ist mir völlig durcheinander geraten, und dieses Chaos ist auch noch nicht behoben – vermutlich bleibt es bestehen. Und trotzdem fühle ich, dass ich eine Umdrehung vollzogen habe. Und jetzt bin ich in der Wirklichkeit. Zwischendurch, während ich die Runde drehte, war ich ganz müde und kaputt. Aber ich habe weitergetanzt, nicht einen einzigen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher