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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann
Autoren: Haruki Murakami
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Gotanda verdächtigt, Kiki umgebracht zu haben. Gotanda hatte sich mit seinem Maserati im Meer ertränkt. Ich hatte Yuki versichert: »Sei unbesorgt, es ist nicht deine Schuld.« Kiki hatte mir erklärt, sie sei nichts als ein Schatten von mir. – Was also hätte ich Yumiyoshi sagen sollen? Es war einfach unmöglich. Zuerst wollte ich ihr Gesicht sehen und dann entscheiden, was davon ich ihr erzählen konnte. Am Telefon wäre das ebenfalls nicht gegangen.
    Ich war beunruhigt. Vielleicht war Yumiyoshi bereits von der Wand verschluckt worden, und ich würde sie nie mehr wiedersehen. Es waren immerhin sechs Skelette. Bei fünf von ihnen wusste ich, um wen es sich handelte. Aber eins war noch übrig. Wer konnte das sein? Sobald ich darüber zu grübeln anfing, wurde ich so unruhig, dass ich es kaum mehr ertrug. Ich bekam kaum noch Luft, und mir raste das Herz, als würde es immer mehr anschwellen und am Ende meinen Brustkorb sprengen. Ein derartiges Gefühl hatte ich noch nie gehabt. War das etwa Liebe? Liebte ich Yumiyoshi? Ich wusste es nicht. Bevor ich einen weiteren Gedanken fassen konnte, musste ich sie sehen. Immer wieder rief ich bei ihr zu Hause an. Ich wählte mir die Finger wund, aber es meldete sich niemand.
    Unruhig wälzte ich mich im Bett. Heftige Panikattacken rissen mich immer wieder aus dem Schlaf. Schweißgebadet und hellwach lag ich da. Zwischendurch knipste ich das Licht an, um zu schauen, wir spät es war. Zwei Uhr. Viertel nach drei. Zwanzig nach vier. Danach konnte ich überhaupt nicht mehr schlafen. Ich setzte mich ans Fenster, lauschte meinem Herzschlag und schaute auf die Stadt herunter, die in der Dämmerung erwachte.
    Bitte, Yumiyoshi, lass mich nicht im Stich. Ich brauche dich. Ich will nicht mehr allein sein. Ohne dich wird mich die Fliehkraft an den Rand des Universums schleudern. Ich bitte dich, zeig dich und binde mich irgendwo fest. Binde mich an die reale Welt. Ich will nicht zum Club der Geister gehören. Ich bin ein ganz normaler, durchschnittlicher Mann von vierunddreißig Jahren.
    Ich brauche dich!
    Von halb sieben an wählte ich jede halbe Stunde ihre Nummer. Ohne Erfolg.
    Der Juni in Sapporo war eine wundervolle Jahreszeit. Der vor wenigen Monaten hart gefrorene Boden war nach der Schneeschmelze tiefschwarz und locker. Er strotzte vor Lebenskraft und Fruchtbarkeit. Die Bäume trugen üppiges Laub, das in der frischen, sanften Brise raschelte. Am hohen, klaren Himmel zeichneten sich scharf Wölkchen ab. Diese Landschaft berührte mich zutiefst. Und dennoch hockte ich hier im Hotelzimmer, wählte ununterbrochen Yumiyoshis Nummer und versuchte mich alle zehn Minuten damit zu beschwichtigen, dass sie ja am nächsten Tag wieder da wäre. Wozu also die Aufregung?
    Das Warten war unerträglich. Wer garantierte mir denn, dass der nächste Tag wirklich kam? Ich saß vor dem Telefon und wählte und wählte. Und wenn ich nicht wählte, legte ich mich aufs Bett, wo ich entweder döste oder stumpfsinnig zur Decke starrte.
    Früher stand hier das Hotel Delfin. Eine schreckliche Bruchbude. Dennoch sind dort unzählige Dinge haften geblieben. Gedanken und andere Spuren der Zeit haben sich in den Fußbodenritzen und Flecken an der Wand verewigt. Ich ließ mich in den Sessel zurücksinken, legte die Beine auf den Tisch und schloss die Augen, um mir die Szenen ins Gedächtnis zu rufen. Die Form des Eingangsportals, die zerschlissenen Läufer, die angelaufenen Messingschlösser, die Fensterrahmen, in deren Ecken sich dicke Staubflocken angesammelt hatten. Ich war durch die Korridore gegangen, hatte die Türen geöffnet, die Zimmer betreten.
    Das alte Delfin war verschwunden, doch sein Schatten, seine Atmosphäre lebte fort. Ich konnte seine Existenz deutlich spüren. Das alte Delfin war in das neue Dolphin-Megahotel eingebettet. Mit geschlossenen Augen verschaffte ich mir Zugang; ich konnte den Fahrstuhl hören, der wie ein schwindsüchtiger, altersschwacher Köter bebte und zitterte. All das existierte noch, es wusste nur niemand. Aber es war da. Hier war mein Knotenpunkt. Keine Sorge, sagte ich zu mir. Dieser Ort ist für mich bestimmt. Sie muss einfach zurückkommen. Ich brauche nur zu warten.
    Ich ließ mir vom Zimmerservice ein Abendessen bringen und holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank. Um acht wählte ich noch einmal Yumiyoshis Nummer. Wieder meldete sich niemand.
    Ich schaltete den Fernseher ein und schaute mir eine Baseballübertragung an. Ohne Ton, nur die Bilder. Es war ein
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