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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann
Autoren: Haruki Murakami
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wenig.
    »Wo sind die Skelette abgeblieben?«, fragte ich.
    »Tja«, sagte Kiki lächelnd, »sie sind weg.«
    »Hast du sie verschwinden lassen?«
    »Nein, sie sind einfach weg. Hast du sie nicht verschwinden lassen?«
    Ich blickte auf das Telefon neben mir und presste die Zeigefinger gegen die Schläfen.
    »Was hatten sie zu bedeuten? Die sechs Skelette?«
    »Sie sind dein Ich«, erwiderte Kiki. »Dies hier ist dein Zimmer. Alles hier drinnen bist du. Alles.«
    »Mein Zimmer«, wiederholte ich. »Und das Delfin? Was ist damit?«
    »Das ist ebenfalls dein Ort. Selbstverständlich. Der Schafsmann ist dort. Und hier bin ich.«
    Die Lichtsäulen blieben bestehen, kristallhart und homogen. Nur die Luft darin vibrierte leicht. Geistesabwesend starrte ich auf diese Vibration.
    »Ich scheine ja überall ein Zimmer zu haben«, sagte ich. »Weißt du, ich habe oft davon geträumt, vom Hotel Delfin. Es gibt dort jemanden, der um mich weint. Ich habe diesen Traum fast jeden Tag. Das Hotel hat die Form eines langen, schmalen Schlauchs, und jemand weint dort um mich. Ich dachte, das wärst du. Deshalb musste ich dich unbedingt treffen.«
    »Jeder weint um dich«, erwiderte Kiki in einem tröstenden, ruhigen Ton. »Ich sagte doch, es ist dein Ort. Jeder weint dort um dich.«
    »Aber du hast mich doch gerufen. Nur wegen dir bin ich zum Hotel Delfin gekommen, um dich wiederzusehen. Von da an … es ist inzwischen viel geschehen. Genau wie damals. Ich bin verschiedenen Leuten begegnet. Und einige davon sind bereits tot. Du hast mich doch gerufen, oder? Du hast mich doch geführt?«
    »Das war nicht ich, das warst du ganz allein. Ich bin nur eine Projektion von dir. Du hast dich selbst gerufen und geführt – durch mich. Du tanzt mit einem Phantom. Ich bin nichts als dein Schatten.«
    Während ich sie würgte, kam es mir vor, als wäre sie mein eigener Schatten. Ich glaubte, wenn ich meinen Schatten tötete, würde es mir besser gehen. Das waren Gotandas Worte.
    »Aber weshalb weinen alle um mich?«
    Sie gab mir keine Antwort. Stattdessen erhob sie sich und kam mit klackernden Schritten auf mich zu. Sie kniete sich vor mir nieder und berührte mit ihren Fingerspitzen meine Lippen. Es waren schlanke, glatte Finger. Dann berührte sie meine Schläfen.
    »Wir weinen um all die Dinge, um die du nicht weinen kannst«, sagte sie ganz ruhig und leise, als wolle sie mich überzeugen. »Wir vergießen unsere Tränen um das, wofür du keine Tränen hast. Wir schluchzen laut, wo deine Stimme versagt.«
    »Sind deine Ohren immer noch so wie früher?«, fragte ich.
    »Meine Ohren?« sagte sie mit einem strahlenden Lächeln. »Ja, sie sind immer noch so. Genau wie früher.«
    »Würdest du sie mir noch einmal zeigen?« bat ich sie. »Ich möchte dieses Gefühl noch einmal auskosten. Damals, als du sie mir in dem Restaurant gezeigt hast, war es, als würde die Welt neu erschaffen. Ich habe es nie vergessen.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ein anderes Mal«, sagte sie. »Jetzt geht es nicht. Das lässt sich nämlich nicht jederzeit demonstrieren. Es muss im richtigen Moment geschehen. Damals war es der richtige Augenblick. Aber nicht jetzt. Irgendwann zeige ich sie dir noch einmal. Wenn du es wirklich brauchst.«
    Sie erhob sich wieder und trat in die von oben einfallende Lichtsäule ein. Dort blieb sie stehen. Es sah fast aus, als würde sich ihr Körper im gleißenden Lichtstaub auflösen und verschwinden.
    »Sag mir, Kiki, bist du tot?«, fragte ich sie.
    Sie drehte sich in der Lichtsäule zu mir um.
    »Du meinst, wegen Gotanda?«
    »Ja«, erwiderte ich.
    »Gotanda glaubt, er hätte mich umgebracht«, sagte Kiki.
    Ich nickte. »Stimmt, er war davon überzeugt.«
    »Vielleicht hat er es getan. Für ihn sieht es so aus. Aus seiner Sicht hat er mich umgebracht. Es war notwendig. Dadurch konnte er sich befreien. Er musste mich umbringen. Sonst hätte er nirgendwo hingehen können, der Ärmste«, sagte Kiki. »Aber ich bin nicht tot. Nur verschwunden. Unsichtbar. Übergewechselt in eine andere Welt. Als würde man in einen parallel fahrenden Zug umsteigen. Das meine ich mit Verschwinden. Verstehst du?«
    Nein, sagte ich.
    »Es ist ganz einfach. Sieh nur.«
    Mit diesen Worten lief sie durchs Zimmer, geradewegs auf die Wand zu. Sie verlangsamte ihre Schritte auch nicht, als sie dicht davor war. Im nächsten Moment wurde sie von der Wand verschluckt. Auch die Schritte waren verklungen.
    Ich starrte auf die Stelle, wo sie verschwunden war. Eine ganz
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