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Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling

Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling

Titel: Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
Autoren: Lynn Flewelling
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den Jahren hatte sie nie erlebt, dass er sie aus der Hand gab. »Kriegsbeute«, hatte er mit einem düsteren Lachen gemeint, als er zum ersten Mal den Beutel öffnete und sie ihr zeigte.
    Darüber hinaus wollte er ihr nie etwas erzählen, außer dass die Schale nicht zerstört werden konnte und nur der nächste Hüter erfahren durfte, dass es sie gab. Stattdessen hatte er ihr eindringlich das verworrene Gespinst aus Zaubersprüchen eingebläut, das die Schale schützte. Er ließ es sie weben und entflechten, bis sie es blind beherrschte und binnen eines Lidschlags zu vollbringen vermochte.
    »Du wirst nach mir die Hüterin sein«, erinnerte er sie stets, wenn sie ob seiner Geheimniskrämerei ungeduldig wurde. »Dann wirst du alles verstehen. Achte darauf, deinen Nachfolger weise zu wählen.«
    »Aber wie soll ich wissen, wen ich dafür ausersehen soll?«
    Auf die Frage hin hatte er ihre Hand ergriffen – wie bei jener ersten Begegnung auf dem Marktplatz. »Vertrau dem Lichtträger. Du wirst es wissen.«
    Und so war es auch gewesen.
     
    Anfangs konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, ihn zu bedrängen, um mehr über die Schale zu erfahren – wo er sie gefunden hatte, wer sie angefertigt hatte, doch Agazhar war unerbittlich geblieben. »Erst, wenn die Zeit für dich gekommen ist, dich ihrer vollständig anzunehmen. Dann sage ich dir alles, was es zu wissen gibt.«
    Traurigerweise hatte jener Tag sie beide unvorbereitet überrascht. Agazhar war eines schönen Frühlingstages kurz nach Iyas erstem Jahrhundert tot auf den Straßen von Ero zusammengebrochen. In einem Augenblick ließ er sich noch über die Pracht eines neuen Wandlungszaubers aus, den er soeben erschaffen hatte – im nächsten glitt er, mit einer auf die Brust gepressten Hand und einem Ausdruck milder Überraschung in den starren, toten Augen, zu Boden.
    Und so war Iya, die damals gerade erst am Beginn ihres zweiten Jahrhunderts stand, plötzlich zur Hüterin geworden, ohne zu wissen, was sie eigentlich hütete oder weshalb. Dennoch hielt sie sich an den Eid, den sie Agazhar geschworen hatte und wartete darauf, dass Illior ihr einen Nachfolger offenbarte. Sie wartete zwei Lebzeiten, in denen viel versprechende Schüler kamen und gingen, denen sie jedoch nichts von dem Beutel und dessen Geheimnis verriet.
    Doch wie Agazhar versprochen hatte, erkannte sie ihren Nachfolger in Arkoniel in jenem Augenblick, in dem sie ihn vor fünfzehn Jahren beim Spielen in seines Vaters Obstgarten zum ersten Mal erblickte. Schon damals konnte er einen Tafelapfel in der Luft kreisen lassen und eine Kerzenflamme allein durch die Kraft seiner Gedanken löschen.
    So jung er noch war, sie hatte ihm alles, was sie über die Schale wusste, anvertraut, sobald er ihrer Obhut überlassen worden war. Später, als er stark genug dafür war, hatte sie ihm beigebracht, wie man die Schutzzauber wob. Dennoch beließ sie die Bürde der Schale auf den eigenen Schultern, wie Agazhar es ihr aufgetragen hatte.
     
    Im Verlauf der Jahre war Iya dazu übergegangen, die Schale als kaum mehr als ein geheiligtes Ärgernis zu betrachten, doch das hatte sich vor einem Monat geändert, als das vermaledeite Ding begonnen hatte, sich in ihre Träume einzuschleichen. Die grässlichen, miteinander verflochtenen Albträume hatten sie letztlich hierher getrieben, denn in allen kam die Schale vor, die hoch über ein Schlachtfeld getragen wurde, von einer schauerlichen schwarzen Gestalt, für die sie keinen Namen kannte.
     
    »Iya? Iya, geht es dir gut?«, fragte Arkoniel.
    Iya schüttelte die Tagträumerei ab, in die sie versunken war, und bedachte ihn mit einem beruhigenden Lächeln. »Ah, wie ich sehe, sind wir endlich da.«
    Die in eine tiefe Felsspalte eingepferchte Ortschaft Afra war kaum groß genug, um sie als Dorf zu bezeichnen. Es gab sie ausschließlich für das Orakel und die Pilger, die zu ihm reisten. Eine Herberge für Wandersleute und die Kammern der Priester waren wie aneinandergereihte Schwalbennester in die Felswände beiderseits des kleinen, gepflasterten Platzes gehauen.
    Durchbrochene Meißeleien und Säulen uralter Machart säumten die Eingänge und tief sitzenden Fenster. Gegenwärtig präsentierte sich der Platz verwaist, aber ein paar Leute winkten ihnen aus den schattigen Fenstern zu.
    In der Mitte es Platzes stand eine rote Jaspissäule, die so hoch aufragte wie Arkoniel. An ihrem Fuß entsprang eine Quelle, die in ein Steinbecken und von dort weiter in einen Trog
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