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Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling

Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling

Titel: Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
Autoren: Lynn Flewelling
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schweigend geleiteten sie ihn zu der Einfriedung aus Stein – dem Eingang zur Kammer des Orakels. Von oben betrachtet schien es sich lediglich um ein Loch im Boden mit knapp anderthalb Meter Durchmesser zu handeln.
    Dieser Akt des Glaubens, der Hingabe, stellte immer eine Herausforderung dar, erst recht beim ersten Mal. Doch wie immer zögerte Arkoniel nicht. Er setzte sich auf die Einfriedung, schwang die Beine über den Rand, umfasste das Seil und nickte den beiden Priestern zu, auf dass sie ihn hinabließen. Langsam sank er außer Sicht, und die Priester hantelten das Seil weiter, bis es schlaff durchhing.
    Iya blieb unter dem Verschlag und versuchte, ihr rasendes Herz zu beruhigen. Tagelang hatte sie sich bemüht, nicht zu unmittelbar darüber nachzudenken, was sie im Begriff zu tun war. Nun, da sie hier war, bedauerte sie ihre Entscheidung plötzlich. Sie schloss die Augen und versuchte, den Grund für ihre Furcht zu erkunden, fand jedoch keinen. An jenem Ort, an der Schwelle zum Orakel, erfasste sie die Vorahnung von etwas Dunklem, das sie erwartete. Stumm betete sie um die Kraft, sich dem zu stellen, was Illior ihr an jenem Tag offenbaren mochte, denn umkehren konnte sie nicht mehr.
    Arkoniel zupfte eher am Seil, als sie erwartet hatte. Die Priester hievten ihn herauf. Hastig lief er zu Iya und ließ sich neben ihr mit verwirrter Miene auf den Boden fallen.
    »Iya, so etwas Seltsames habe ich …«, setzte er an, doch sie hob warnend die Hand.
    »Dafür ist später noch genug Zeit«, erklärte sie mit dem Wissen, dass sie sofort gehen musste oder es gar nicht tun würde.
    Als sie sich das Seil anlegen ließ und ihre Beine über den Rand des Loches baumelten, stockte ihr der Atem in der Brust. In einer Hand das Seil, in der anderen den Lederbeutel, nickte sie den Priestern zu und begann den Abstieg.
    Sie spürte das vertraute, flaue Gefühl im Magen, als sie schaukelnd in die kühle Dunkelheit hinabsank. Iya war es nie gelungen, die wahren Ausmaße der unterirdischen Kammer zu erahnen; jedenfalls deuteten die Stille und der leichte Luftzug gegen ihr Gesicht eine riesige Höhle an. Wo das Sonnenlicht auf den Boden schien, offenbarte es die sanft gewellte Glätte von Stein, den ein uralter Fluss geschliffen haben musste.
    Bald berührten ihre Füße festen Boden. Iya schlüpfte aus dem Seil und trat aus dem Kreis des Sonnenlichts. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten, erspähte sie in der Nähe einen leichten Schimmer und ging darauf zu. Jedes Mal, wenn sie diesen Ort aufgesucht hatte, war der Schimmer aus einer anderen Richtung gedrungen. Als sie jedoch schließlich beim Orakel eintraf, war alles noch so wie in ihrer Erinnerung.
    Eine Kristallkugel auf einem Dreibein aus Silber strahlte einen breiten Lichtkreis ab. Das Orakel saß daneben auf einem niedrigen Elfenbeinstuhl, der zur Form eines kauernden Drachen geschnitzt war.
    Sie ist noch so jung! , dachte Iya mit unerfindlicher Traurigkeit. Die beiden letzten Orakel waren Greisinnen mit durch jahrelange Finsternis bleicher Haut gewesen. Dieses Mädchen hingegen war höchstens vierzehn Jahre alt, dennoch wirkte auch seine Haut bereits blass. In einem schmucklosen Hängekleid aus Leinen, das die Arme und Füße nackt ließ, saß das junge Ding mit den Handflächen auf den Knien da. Das Gesicht war rundlich und schlicht, der Blick wirkte leer. So wie Zauberer entgingen auch die Weissager von Afra Illiors Berührung nicht unbeschadet.
    Iya kniete sich vor das Mädchen. Ein maskierter Priester, der ein großes Silbertablett vor sich hielt, trat in den Lichtkreis. Die Stille in der Kammer verschluckte Iyas Seufzen, als sie die Schale auswickelte und auf das Tablett legte.
    Der Priester brachte es zum Orakel und stellte es auf dessen Knien ab. Die Züge des Mädchens blieben starr und verrieten nichts.
    Spürt sie das Böse nicht, das von diesem Ding ausgeht? , fragte sich Iya. Die unverhüllte Macht der Schale verursachte ihr Kopfschmerzen.
    Endlich rührte sich das Mädchen und blickte auf das Gefäß hinab. Silbriges Licht, hell wie der Mondschein auf Schnee, schwoll um den Kopf und die Schultern des Orakels an. Iya erzitterte vor Ehrfurcht. Illior war in das Mädchen eingedrungen.
    »Ich sehe Dämonen, die sich an den Toten laben. Ich sehe den Gott, dessen Name nicht ausgesprochen wird«, verkündete das Orakel leise.
    Iyas Herz verwandelte sich in der Brust zu Stein, als ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt wurden. Das Orakel sprach von
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