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Tag der geschlossenen Tür

Tag der geschlossenen Tür

Titel: Tag der geschlossenen Tür
Autoren: Rocko Schamoni
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oben ist man von der Welt abgeschlossen. Vielleicht ist das der Grund, warum seine Praxis nie gelaufen ist. Vielleicht ist das auch der Grund, warum er nie zu praktizieren aufhörte – er kommt hier nicht mehr weg. Vor der Tür versuche ich ein wenig zu Atem zu kommen, dann betrete ich die Praxis.
    Der Flur, der Empfangstresen, alles sieht etwas verwahrlost und verlassen aus, ein einziges trübes Licht brennt an der Decke, Staub liegt auf dem Mobiliar, alles riecht alt. Ich tapse durch den knarrenden Holzflur von Zimmer zu Zimmer und klopfe überall an. Im Behandlungsraum schließlich finde ich den Doktor, er sitzt im Behandlungsstuhl und liest medizinische Fachliteratur.
    »Guten Morgen, Herr Doktor.«
    Er blickt kurz auf, sieht mich an, als hätte er auf mich gewartet, und erhebt sich. Dabei fällt mir auf, dass er bereits über achtzig Jahre alt sein muss, er wirkt ein wenig gebrechlich, sein hängendes Gesicht ist schlecht rasiert, die Bartstoppeln stehen aus den Kinnfalten. Auf seinem Pullunder haben sich Essensreste gesammelt, und der Hosenstall steht ihm offen.
    »Guten Morgen. Na, dann wollen wir uns mal setzen.«
    »Is recht, Herr Doktor.«
    »Was treibt Sie zu mir, womit kann ich Ihnen helfen?«
    Angenehm ist mir, dass er mich weder nach meinem Namen noch nach meiner Versichertenkarte fragt. Ihm geht es rein ums Helfen. Auch lässt er nicht durchblicken, ob er mich überhaupt wiedererkennt.
    »Ich möchte einen Aidstest machen, Herr Doktor.«
    »Soso. Haben Sie denn Anlass zur Befürchtung?«
    »Das weiß ich nicht genau. Ich möchte einfach sicher sein.«
    »Na, dann wollen wir mal ein wenig Blut abnehmen.«
    Während ich mir den Ärmel hochkrempele, bereitet er eine Spritze vor. Als er die Nadel ansetzt, wird mir doch etwas bange, weil er größere Schwierigkeiten hat, eine Ader ausfindig zu machen. Aber schließlich sticht er zu und drückt ab.
    »Bei der Gelegenheit könnte ich Sie ja gleich mal komplett durchchecken, oder?«
    Er wittert die Gelegenheit, ein willfähriges Forschungsobjekt gefunden zu haben, um endlich aus der Untätigkeit zu erwachen.
    »Warum nicht, Herr Doktor, ich fühle mich ohnehin nicht gut. Schon sehr lange nicht mehr.«
    Hier haben sich zwei gefunden, die zusammengehören. Voller Elan und neu erwachter Lebensfreude beginnt Doktor Dortmunder, meinen Körper zu untersuchen, tastet meine Lymphknoten ab, sieht in die Ohren, die Nase, den Mund und die Augen, hört mein Herz und meine Lunge ab, begutachtet meine Haut, dehnt die Gelenke und die Muskulatur, untersucht einige Leberflecken und nimmt eine Speichelprobe. Er ist ganz in seinem Element, scheint meine Anwesenheit vergessen zu haben, murmelt in sich hinein und behandelt mich wie ein ausgestopftes Forschungsobjekt. Auch ich fühle mich sehr wohl bei dieser Behandlung und frage mich, wie ich ihn als Patient jemals verlassen konnte. Schließlich sammelt er sich und schaut mich an.
    »Und? Herr Doktor – was hab ich denn? Ist es etwas Schlimmes?«
    »Nun ja, junger Mann. Ihnen fehlt eigentlich nichts weiter. Ihre Muskeln und Gelenke lassen auf eine gewisse Untätigkeit schließen, Ihre Pigmentierung verweist darauf, dass Sie wenig Sonnenlicht sehen, ich vermute, dass Ihr Hauptleiden eher phlegmatischer Natur ist. Sie sollten sich ein wenig bewegen, rausgehen, sich gesund ernähren, Sport treiben, Vitamine zu sich nehmen, eben all das tun, was junge Menschen tun.«
    »Wie, Herr Doktor, das ist alles?«
    »Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.«
    Eine tiefe Enttäuschung durchfährt mich. Es ist nichts an mir zu entdecken. Jetzt fällt mir auch wieder ein, warum ich damals die Praxis gewechselt habe – Doktor Dortmunder war einfach zu ehrlich. Man muss doch dem Kranken seine Würde lassen, auch wenn er nur ein eingebildeter Kranker ist. Ein guter Arzt behandelt auch jemanden, der nichts hat. Wenn einer eine Krankheit braucht, sollte man sie ihm lassen. Manchen Menschen ist das gesunde Leben eben zu banal.
    »So, und jetzt schreiben Sie mir mal Ihre Adresse auf. Ich lasse Ihnen dann demnächst das Ergebnis der Aidsuntersuchung zukommen. Falls Sie tatsächlich erkrankt sein sollten, was ich nicht glaube, werde ich Sie in die Praxis bestellen. Junger Mann – ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Tag.«
    »Ich Ihnen auch, Herr Doktor.«
    Geknickt verlasse ich die Praxis. Nichts habe ich. Alle haben irgendetwas, der Mensch an sich braucht ja etwas. Nur ich habe mal wieder nichts abbekommen. Nur ich bin leer ausgegangen, bin
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