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Survive

Survive

Titel: Survive
Autoren: Alex Morel
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beigebracht hatte. »Ich möchte ihn rösten und braten und aufessen.« Und ich schüttelte mit einem kleinen verschmitzten Grinsen den Kopf. Er tat dann immer so, als sei er gekränkt, und flehte und flehte um einen Kürbiskern, bis ich lachen musste. Dann drückte er mich, küsste mich auf den Kopf und sagte mir, dass er mich über alles liebe.
    Es ist komisch: Am Tag, bevor er starb, kam er zu mir ins Wohnzimmer, wo ich einen alten Film namens The House Without a Christmas Tree gesehen habe. Er beugte sich über mich und küsste mich auf den Kopf, wie er es halt getan hatte, als ich fünf war. Aber jetzt war ich elf, und ich drehte mich zu ihm um und schrie ihn an: »Mach das nie wieder! Es ist abartig. Küss mich nicht auf den Kopf und fass auch nicht mein Haar an.« Er stand für einen Moment irgendwie wie erstarrt da, dann lächelte er. Er sagte: »Entschuldige, Kürbis, ich wollte dich nicht belästigen.«
    »Du belästigst mich nicht – küss mich nur nie wieder auf den Kopf.«
    Er nickte zum Einverständnis, flüsterte: »Entschuldige, Kürbis«, und ging. Am nächsten Morgen war er tot. Ich hatte nie Gelegenheit, die Sache zu erklären oder etwas dazu zu sagen, dass es mir leidtat oder so. Ich verabscheute es nicht – nur mein elfjähriges Ich verabscheute es. So ticken Elfjährige nun mal. Ich denke äußerst ungern darüber nach, und deshalb vermeide ich es nach Möglichkeit, allzu viel an ihn zu denken. Aber alle wollen sie ständig darüber reden.
    »Meine Mutter hat seine Krawatten aufgehoben. Ich will weder sie noch ihre dummen Fotos von ihm ansehen müssen. Sein Atelier ist wie ein gruseliger Reliquienschrein oder ein Mausoleum. Es kotzt mich an. Sie kotzt mich an. Ich liebe sie, aber sie kotzt mich an. Sie will nur alles genauso erhalten, wie es war, nur dass nichts mehr so ist. Er ist tot. Und ich habe jetzt einen Knall, genau wie er einen hatte.« Dieses Gespräch erschöpft mich. Nicht die Art, wie ich meine letzte Sitzung verbringen wollte.
    »Du wirst deine Mutter morgen sehen. Vielleicht können wir sie dazu bewegen, mit dir zurückzufliegen, und wir können ein Familiengespräch über die Fotos und die Krawatten führen und über das Zimmer deines Vaters, wenn es dich aufregt. Es könnte hilfreich sein, wenn ihr beide einander zuhören würdet.«
    Wieder folgt eine lange Pause, und er wartet geduldig auf meine Reaktion. Aber ich sitze mit unbeweglicher Miene da. Er betrachtet mich einige Minuten lang, was ich als wirklich unbehaglich empfinde, bis ich schließlich mit dem Erstbesten herausplatze, was mir in den Sinn kommt.
    »Ich habe noch nie Weihnachten ohne sie verbracht. Beim Gedanken daran habe ich mich sehr einsam gefühlt. Jetzt fliege ich nach Hause. Darüber bin ich froh. Es wird wie in alten Zeiten sein. Wir können dann reden; es ist nicht nötig, dass sie hierherkommt.«
    Er nickt und hofft, dass ich weiterrede.
    »Ich will mit ihr einkaufen gehen. Ich habe sehr schöne Erinnerungen daran.«
    Dann folgt eine lange Pause, in der ich nichts sage und er dasitzt wie eine Statue in einem Park, die darauf wartet, dass der durchgeknallte Idiot auf der Bank wieder zu reden anfängt.
    »Das wirst du auch tun können, da bin ich mir sicher.«
    Er greift nach einer Schachtel mit Papiertaschentüchern.
    Ich nehme eins. Ich weine.
    Er sieht auf seine Uhr, dann sagt er: »Du musst deinen Bus erwischen.«
    Ich schniefe und lächle.
    »Ich wünsche dir eine wunderbare Reise, Jane. Denk daran: Ganz gleich, wie dunkel deine Zeit zu Hause sein wird, du bist nicht allein. Es könnte einen Moment geben oder sogar ein oder zwei Tage, wo du dieses Gefühl hast und denkst: ›Niemand auf der Welt kann mich sehen oder hören‹, aber das stimmt nicht. Wir sind immer bei dir. Wir glauben an dich. Und du kannst uns jederzeit telefonisch erreichen.«
    Ich frage mich, ob da sein Unterbewusstsein am Werk ist. Ob er sich Sorgen macht, dass etwas Schlimmes geschehen könnte. Ich frage mich, ob der Gedanke in seinem Kopf heranreifen wird, bis er versucht, mich zu retten, wenn ich ins Flugzeug steige. Hirngespinste, tadele ich mich.
    »Frohe Weihnachten, Jane.«

Kapitel 6
    Ich schnappe mir meine Tasche und sehe zu, dass ich aus den Altdamentanzschuhen herauskomme. Dann schlüpfe ich in meine Schneestiefel und ziehe die Säume meiner Jeans darüber. Ich stopfe meine weiße Bluse in die Jeans und ziehe einen dunkelbraunen Pullover mit V-Ausschnitt an, darüber dann meine Winterjacke. Ich eile nach unten in die
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