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Survive

Survive

Titel: Survive
Autoren: Alex Morel
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nur ein Mensch. Wenn ich euch eins mit auf den Weg geben kann, Leute, dann das: Erwachsene sind so leicht auszutricksen. Lasst sie glauben, dass sie Genies sind. Ihr Ego ist noch größer als unseres.
    Ehrlich gesagt bin ich selbst kein Genie, aber dafür eine sehr gute Lügnerin.

Kapitel 5
    »Jane?«, fragt Old Doctor.
    Ich höre ihn, aber ich will, dass er voranmacht. Er möchte über meinen Vater sprechen. Welche Erinnerungen an Weihnachten ich mit ihm verbinde. Ich habe über zwanzig Minuten lang meine üblichen Antworten ausgekotzt: Ich war erst elf, und er ist an Heiligabend gestorben. Natürlich ist »gestorben« nicht das richtige Wort, vermutlich genauso wenig wie die Bezeichnung »Zwischenfall« für meinen Zwischenfall . Aber das würde ich Old Doctor niemals erzählen. Sie sind gestorben kann man über Menschen sagen, die, ob sanft oder unsanft, von irgendeiner äußeren Kraft getrieben, in die ewigen Jagdgründe entschwunden sind; wenn etwa Krebszellen oder ein zu schneller Wagen die Ursache waren. Mein Vater nahm jedoch sein Schicksal selbst in die Hand. Er hat seinen eigenen Schalter umgelegt, wie die Patienten hier in Life House so gern sagen. Mein Vater hat sich das Leben genommen. (So möchte Old Doctor, dass ich es formuliere, in aller Ehrlichkeit und Offenheit.)
    »Ich kann mich nur an sehr wenig erinnern, was seinen Tod betrifft«, sage ich, was sowohl wahr als auch unwahr ist, aber jetzt etwas anderes zu behaupten, nach alledem, was ich im vergangenen Jahr über meine Halberinnerungen erzählt oder nicht erzählt habe, würde zu viele Fragen aufwerfen. Und ich weiß, warum er fragt. Weil ich nach Hause fahre und Weihnachten ist und unausweichlich alles Mögliche aufgewühlt wird. Genau das sind die Festtage für mich: ein großes Fest des Mistaufwühlens. Die Menschen verstehen das nicht, aber Erinnerungen sind genau wie die Zukunft. Du kannst nicht planen, wann sie auftauchen, und du hast keine Kontrolle über sie, wenn sie es tun. Das Schlimmste von allem: Je älter du wirst, umso trauriger sind die Erinnerungen. Zumindest ist das meine Erfahrung.
    Und wo wir schon dabei sind: Niemand wühlt mehr Mist auf als meine Mutter. Darüber zerbricht sich Old Doctor wahrscheinlich spät in der Nacht den Kopf und kaut an seinen Nägeln. Er hat meine Mutter kennengelernt, daher weiß er Bescheid. Sie ist völlig irre mit all den Fotos in jedem verdammten Zimmer, als würde ein Foto in deinem Zimmer deinen toten Mann im Herzen am Leben erhalten. Auf alle Fälle hält es in meinem Herzen die Depression quicklebendig. Aus dem Haus zu gehen ist nicht viel besser. Wenn wir zum Beispiel im Supermarkt einkaufen gehen – in den Augen jedes vernünftigen Menschen eine völlig banale Angelegenheit – , ist jeder Regalgang der Ort einer vergessenen Erinnerung. »Oh, dein Vater hat so gern Honig-Nuss-Cheerios zum Frühstück gegessen«, oder »Kaffee, dein Vater hat das Aroma einer frisch aufgebrühten Tasse einfach geliebt«. Wirklich, Mum? Hat ihm auch das sanfte Gefühl von Charmin-Toilettenpapier gefallen? Man würde am liebsten einfach rausschreien: »Wenn er so viel so geliebt hat, warum hat er sich dann verdammt noch mal umgebracht!?«
    Ich höre, wie Old Doc sich geräuschvoll räuspert.
    »Entschuldigung, was haben Sie gefragt?«, sage ich, um Zeit zu schinden.
    Old Doctor sitzt in seinem großen Lederstuhl und wartet darauf, dass ich fortfahre. Seine dünnen Arme sind voller Knochen, die förmlich aus seiner schlaffen, spröden Haut herausragen.
    »Du warst ein Jahr lang nicht mehr zu Hause«, erwidert er und probiert es nun auf einer anderen Schiene. »Wie fühlst du dich dabei?«
    »Ich bin bereit«, antworte ich, sage aber sonst nichts.
    »Bereit?«, fragt er schließlich, nachdem er eine Weile gewartet hat.
    Ich mache mir für einen Moment Sorgen, ob mein Unwille zu sprechen in Kombination mit meinen kurzen, unergiebigen Antworten dazu führen kann, dass er mir mein »Bereitsein« nicht abkauft. Ich blicke auf meine Schuhe und tue so, als würde ich gründlich über seine Frage nachdenken. Ich kann unmöglich in diesen Schuhen sterben. Es sind Altdamenschuhe, die meine Mutter für mich gekauft hat, für den Fall, dass es in Life House einen Ball oder so etwas geben würde. Denkt eine Sekunde darüber nach, und ihr bekommt einen kleinen Eindruck von dem, womit ich zu kämpfen habe. Meine Mum dachte, es gäbe vielleicht ein paar nette Jungs in dieser schönen Irrenanstalt, mit denen ich tanzen
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