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Survive

Survive

Titel: Survive
Autoren: Alex Morel
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könnte.
    Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich gebe meiner Mum keine Schuld an dem, was passiert ist. Mein Dad war ein Selbstmordkandidat, genau wie seine Mutter, und bestimmt waren das deren Mum oder Dad ebenfalls. Es gibt sicher Studien, die das besser belegen, als ich es kann, aber wenn sich jemand aus der eigenen Familie umgebracht hat, ist die Wahrscheinlichkeit viel größer, dass man es auch selbst probiert. Allerdings gebe ich ihr durchaus Schuld daran, dass sie nicht loslässt. Dass mich ihretwegen seine hässliche Entscheidung wie eine offene Wunde durch mein Leben begleitet: Unbehandelt kann das zu einem Problem werden, wie die Ärzte zu sagen pflegen. Und ich schätze, nun bin ich ein Problem geworden. Sicher, sie hat mich zu Unmengen von Ärzten geschleppt, doch sie konnte verdammt noch mal niemals darüber hinwegkommen, und deshalb stecken wir seit dem Selbstmord an jenem Weihnachten vor fünf Jahren im gleichen Schlamassel fest.
    »Du schaust immer wieder auf deine Schuhe. Warum?«
    »Meine Mutter hat sie mir geschickt, für den Fall, dass hier ein besonderes Ereignis stattfindet. Ein Ball oder so was. Mein Gott, es klingt so lächerlich, wenn man es ausspricht. Sie spinnt, nicht wahr?«
    Er nickt wieder, eher um so etwas wie Erkenntlichkeit als um Zustimmung zu zeigen. Aber ich erwidere nichts. Schließlich gibt er nach.
    »Ist deine Reise nach Hause ein besonderes Ereignis?«
    Ich spüre es. Diese alten, knochigen Hände haben etwas in mir in die Finger bekommen. Aber weiß er, worauf er seine Finger gelegt hat?
    »Bedauerlicherweise ist eine Busfahrt in irgendein Hintertupfingen, gefolgt von einer weiteren Busfahrt zu einem traurigen, kleinen Flughafen in einem Provinznest in meinem momentanen Leben wirklich ein großes Ereignis.« Ich lasse ein nervöses Lächeln aufblitzen. Es gefällt mir nicht, wohin sich dieses Gespräch entwickelt.
    Er sieht mich abwartend an. Er will, dass ich ihm meinen geheimen Plan auf den Tisch werfe.
    Ich sitze mit versteinerter Miene da.
    Er beugt sich vor, sieht mir forschend in die Augen und versucht, seinen Griff um das Unbekannte in mir zu festigen. Ich wette, die Verwendung des Wortes Ereignis hat seine Alarmglocken läuten lassen, und jetzt sucht er nach seiner Beute. Zeig kein Gefühl, Jane.
    »Jane«, beginnt er sanft.
    Ich bemerke zum ersten Mal, dass ich zittere. Er muss eine kleine Öffnung entdeckt haben, denn seine Augen funkeln. Ich muss etwas sagen, um seinen Bann zu brechen.
    »Ich kann diese Schuhe nicht ausstehen. Meine Mutter kauft gern Schuhe. Ich hasse ihre verdammten Schuhe. Mein Vater hat sich über ihre Schuhe lustig gemacht. Daran kann ich mich erinnern.« Hör auf zu reden, Jane. Kein Wort mehr.
    Ich betrachte meine Schuhe. Zu meiner eigenen Überraschung fällt eine Träne auf sie herab. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass das Wasser in meinen Augen vorgespielt ist, Teil meiner kleinen Enthüllung, aber der Tränenfluss entzieht sich meiner Kontrolle. Dieser alte Dreckskerl versteht es, seine Fragen zu stellen, und ich glaube, er weiß auch genau, wann er sie zu stellen hat. Ich habe so viel damit zu tun gehabt, meinen Plan vor Old Doctor zu verbergen, dass nun meine anderen Geheimnisse weniger gut geschützt sind. Vielleicht bin ich aber auch nur nervös wegen heute. Es ist, als bräche etwas in mir auf.
    »Warum hat er sich über deine Mutter lustig gemacht?«
    »Ich habe keine Ahnung. Er ist schon so lange tot. Er sagte immer, dass sie ›mehr Schuhe als eine Prinzessin‹ habe. Er mochte Krawatten. Meine Mutter und ich haben ihm jedes Weihnachten zwei Stück gekauft. Es gab immer einen Haufen von Geschenken auszupacken: Spielsachen für mich, Schuhkartons für Mum und jedes Mal zwei flache Krawattenschachteln für Daddy.«
    Ich höre für einen Moment auf zu reden und stelle mir vor meinem inneren Auge meinen Vater vor. Ich sehe immer das gleiche Bild, wenn ich versuche, mich daran zu erinnern, wie er aussah: Wie er in seinem wirklichen Alltagsleben war. Er sitzt in seinem Atelier, lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und schaut aus dem Fenster. Ich gehe immer sehr leise hinein und denke, dass er nicht mitbekommt, wie ich mich in sein Atelier schleiche – doch er hat es immer direkt bemerkt. Ich war damals ein ganz kleines Mädchen, vielleicht fünf oder sechs. Er sagte dann: »He, Kürbis, kann ich einen Kürbiskern haben?«, und ich antwortete immer: »Zu welchem Zweck, Sir!« – es war ein Satz, den er mir
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