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Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Titel: Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)
Autoren: Claudia Schreiber
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mich.«
    Annies Atem war heiß, die Luft eisig, und bei jedem ihrer Worte bildete sich eine Wolke vor ihrem Mund: »Was soll denn eine Stadt für dich haben?«
    »Geld natürlich, vielleicht gibt es eine Prämie.«
    »Prämie? Für was?«
    »Für eine Rodung.«
    Annie ließ die Säge sinken und schaute ihre Mutter fragend an: »Zuschüsse fürs Zerstören?«
    »So ist die EU , was kann ich dafür?«, antwortete die.
    Annie schüttelte nur den Kopf und ließ sich von Nettes Plänen nicht entmutigen, aus denen war bislang nie was geworden. Sie legte ihre Säge wieder an einen Ast und arbeitete
weiter.
    »Das Gesetz verbietet dir zu arbeiten.«
    »Ich bin kein Kind mehr.«
    »Aber …, wenn einer das meldet? Dann bin ich dran beim Jugendamt, denk doch einmal an mich, wie stehe ich dann da?«
    »Lass mich in Ruhe, oder ich zeige dich beim Amt an.«
    Ihre Stimme überschlug sich: »Du willst mich …? Weshalb das denn?«
    »Weil du mich in dieser Kälte zur Arbeit zwingst.«
    »Wie bitte?!« Nette raufte sich die Haare. Bevor sie aus der Plantage verschwand, drohte sie noch: »Mach bloß deine Hausaufgaben, sonst setzt es was, das kannst du dann ruhig melden, du!«
    Annie schnitt die Bäume, solange es hell war, und lernte am Abend gern, was sie bis dahin nicht regelmäßig getan hatte. In der Schule schaute sie zwar so
mürrisch drein wie üblich, machte aber zum ersten Mal mit und bewältigte unerwartet leicht ihre Tests und Arbeiten; die Noten wurden besser, obwohl sie gar nicht darauf aus gewesen
war. Ihre Lehrer wollten mit ihr ins Gespräch kommen, doch sie antwortete immer noch verunsichert bloß das Nötigste.
    Sie lese im Sommer Zeitung, im Winter nicht.
    Nein, sie besitze keine Bücher.
    Keinen Computer, aber Opa.
    Nein, sie sei noch nie im Theater gewesen.
    Nein, sie spiele kein Musikinstrument, sie trommle nur.
    Ja, über einen eigenen Weltatlas würde sie sich freuen.
    Der Erdkundelehrer hielt Wort, sie bekam tatsächlich ein dickes großes Buch ausgehändigt, das sie nicht zurückzugeben brauchte. Damit lag sie nun jeden Abend im Bett,
blätterte, las und forschte, schwamm in Flüssen, kletterte über Gebirge, betrachtete Inseln, Höhenlagen und das Wattenmeer, prägte sich die Namen ein und machte erste
Reisepläne. Ich werde nicht ewig hier bleiben, wusste sie, ich werde fortgehen, wenn ich erwachsen bin, ich werde reisen, wie Nette.
    Die wiederum stocherte in Vokalen herum und fand so manchen Konsonanten dazu, um ihrer Tochter ein freundliches Wie gehts denn zu sagen. Annie sagte im Gegenzug
auch mal Schlaf gut ; mehr persönliche Kommunikation brachten die beiden nicht zustande, von Umarmungen ganz zu schweigen.
    Es gab in diesem Winter drei Menschen, die Annie angenehm und nützlich waren und ansonsten die Klappe hielten: Galle, der heißen Tee zubereitete und den jeden Tag zur Plantage
brachte, die Bäckerin, die sie weiter mit Gebäck versorgte, und der Apotheker, der nichts für Pflaster, Wundcreme und Behandlung verlangte, als sie ihn mit zerschundenen Händen
aufsuchte.
    »Wie hast du das um Himmels willen hingekriegt?«
    »Ich schneide gerade die Bäume.«
    Er schüttelte den Kopf: »Ich meine das Baby.«
    Wieder spürte sie diesen Schrecken, der ihr immer noch die Sprache verschlug.
    »Du hattest doch keine Ahnung, was in solchen Fällen zu tun ist.«
    Sie schwieg, weil er recht hatte.
    »Ich denke nicht, dass das so einfach vonstattengeht, du hast den beiden das Leben gerettet, der Mutter und dem Kind. Das hast du gut gemacht, das macht dir keiner nach.«
    In diesem Moment empfand sie keinen Stolz, das Gegenteil war der Fall. Mit einem Mal, als hätte er freundlich einen Stopfen gezogen, brach es aus ihr heraus: »Es hat sich nicht
gerührt, war blau am ganzen Körper. Ich habe lange nicht kapiert, was das ist, dann habe ich auf den Rücken geklopft, und erst da hat es nach Luft geschnappt.«
    Er nickte: »Das muss ein schlimmer Moment gewesen sein.«
    »Ich hab so Schiss gehabt, dass es totgeht, und die Mutter auch. War doch alles blutig da unten.«
    »Weshalb hast du keinen Notarzt alarmiert?«
    »Ich wollte ja, verboten hat sie’s mir.«
    »Ja«, sagte der Apotheker ernst. »So wirds gewesen sein. Ein Glück, dass niemandem etwas geschehen ist.«
    »Wo ist sie bloß hin?«
    »Sie wird nach Hause gegangen sein, mach dir keine Sorgen.«
    »Weshalb will sie denn kein Kind?«
    »Vielleicht, weil sie selbst noch eines ist.«
    Annie fragte sich Stunden später, wann sie ihm erzählt
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