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Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Titel: Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)
Autoren: Claudia Schreiber
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schlugen ihr bei diesen Wettläufen ins
Gesicht, kratzten ihr die Wangen auf, mit bloßem Unterarm wischte Annie sich Schweiß, Tränen und Schmutz ab. Runter und rauf, immer den Vögeln nach, die schon vorausgeflogen
waren, aussichtslos, wieder und immer wieder, ein andauerndes Hin und Her.
    Doch die Stare gewöhnten sich an den Lärm, und Annie musste fester schlagen und schriller schreien, damit die Fresser sich überhaupt noch stören ließen. In der
Mittagshitze zogen sie allerdings wie auf Kommando ab, verdauten in den Wipfeln des kühleren Waldes. Annie wusch sich im Bach, ruhte dann erschöpft im Schatten des Holzschuppens und hatte
endlich eine Pause. An diesem Tag war sie bereits sechs Stunden unterwegs.
    An der Außenwand des Schuppens stand ein altes Metallbett mit Sprungfedern, es war mit einer Schaumstoffmatte und viel frischem Heu gepolstert; dort lag sie nun, aß ihre
mitgebrachten Wurststullen, las wenige Minuten in ihrer Zeitung und schlief ein.
    Beinahe jeder Mensch kennt den Geruch seiner Kindheit, vielleicht ist es der von frischen Brötchen, die es immer zum Frühstück gab, oder vom rostigen Metall der maroden Schaukeln
auf dem Spielplatz, je nachdem. Oder der von frischem Teer auf Straßen, wenn man in Gegenden aufwuchs, in denen die Straßen oft ausgebessert werden mussten; von mit Essigwasser
geputzten Treppenhäusern oder muffigen Dachböden, wo sich alte Schätze finden ließen oder man die Tauben des Großvaters füttern durfte. Annies Erinnerung an ihre
Heimat, ihr Lieblingsgeruch wird immer dieses würzige Heu sein, eben von der Sonne verbrannt, jene Mischung aus Gras, Klee, Sauerampfer, Kamille und etwas Minze. Hier schien die Sonne
beständig, wie es sich Städter in ihren teuren Urlauben wünschen, Annie dagegen bekam das kostenlos. Weiße Wolken zogen über den hellblauen Himmel; dazu konnte sie den
kühlen Bach jederzeit genießen, mit den nackten Füßen den glitschig-zarten Grund des Ufers spüren. Wenn die Schwärme zurückkehrten, arbeitete sie weiter, bis
sich die Stare zur Abendruhe sammelten und abzogen.
    Die Plantage lag drei Kilometer vom Haus der Familie entfernt, Annie wohnte mit ihrer Mutter und ihrem Großvater an der für Touristen eingerichteten Märchenstraße in einem
der renovierten Fachwerkhäuser. Zur Zerstreuung gab es im Ort bloß eine Feuerwehr, die nie einen Brand, sondern maßgeblich den Durst der Herren löschte, und eine stocksteife
Damenturntruppe, die jährlich eine Kirmes vorbereitete, den festlich-läppischen Höhepunkt des Jahres. Sowohl hier als auch in den benachbarten Ortschaften standen mittelalterliche
Häuser, das Fachwerk in Schwarz-Weiß gehalten, die Straßen mit Basalt gepflastert, hübsche schmale Gefängnistürme wie aus einer Filmkulisse zu Rapunzel , oder im nahen Wald ein verwunschenes kleineres Schloss, in dem Dornröschen vor langer Zeit gelebt und geschlafen haben soll.
    Das nordhessische Dorf wurde schon im neunten Jahrhundert nach Christi Geburt in Urkunden eines Klosters erwähnt, und Annie fragte sich, weshalb ausgerechnet aus ihrem Nest in all der Zeit
nichts geworden war. Berlin war viel später entstanden und hatte es zur Hauptstadt gebracht.
    Unter dem Papiercontainer an der Kreuzung zum Feldweg lag geschützt vor Regen regelmäßig die Süddeutsche Zeitung vom Vortag, ordentlich
gefaltet, die Seiten in der richtigen Reihenfolge. Der Apotheker des Ortes überließ Annie auf diese Art regelmäßig seine Lektüre. Zur Plantage führte ein
ungewöhnlich breit geteerter Luxus-Feldweg, der das Gewerbegebiet erschloss, auf dem sich abgesehen von ein paar Füchsen niemand sonst angesiedelt hatte, schon gar kein Gewerbe. Teure
solarbetriebene Straßenlaternen standen dort neben nicht genutzten Grundstücken, von denen Annies Großvater bitter behauptete, er habe für sie mit seinen Steuergeldern
persönlich aufkommen müssen, für nichts und wieder nichts.
    »Weißt du, was ich bin?«, schimpfte er und nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche. »Sponsor dieser Bundesrepublik bin ich, so siehts aus, ohne dass mich einer fragt,
was ich alles löhnen will.«
    »Zahlen wir denn noch Steuern?«, fragte Annie, die genau wusste, wie es um die Einkommensverhältnisse der Familie stand. Er blieb ihr die Antwort schuldig.
    Die Dinge standen nicht zum Besten, entweder fiel die Ernte schlecht aus, oder die Obstpreise waren im Keller. Bereits seit Jahren ließen viele Bauern die Früchte an den Bäumen
hängen und
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