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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll
Autoren: Avi Primor
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er verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. ›Was ist los?‹, dachte er. ›Warum falle ich um, von einem Schlag auf den Helm? Ich bin doch nicht verletzt. Es tut mir nichts weh. Der Helm hatmich gerettet. Ich muss aufstehen.‹ Da fühlte er warme Flüssigkeit übers Gesicht rinnen. Sie drang ihm in Nase, Ohren, Mund, drohte ihn zu ersticken. ›Was ist das?‹, fragte er sich.
    ›Es kann nicht sein, dass ich verletzt bin, ich spüre keinen Schmerz!‹ Er versuchte, den Arm zu heben, um seinen Kopf zu berühren, und war verblüfft, wie schwer ihm das fiel. Endlich gelang es ihm, mit dem Finger den Kopf zu betasten. ›Also doch‹, dachte er, ›ich bin verletzt! Ein Splitter oder eine Kugel ist durch meinen Helm geschlagen! Aber warum bin ich so verwirrt, obwohl mir nichts wehtut? Ja richtig, ich habe ein Loch im Kopf‹, sagte er sich und versuchte nachzudenken. Er erinnerte sich daran, dass ein Freund, der einen Kopfschuss erlitten hatte, einmal zu ihm gesagt hatte: »Auf die ersten zwei Minuten nach der Verletzung kommt es an. Wenn du die überstehst, kann alles noch gut werden.« Er spürte, wie die Minuten verstrichen, wie sein Bewusstsein wegdämmerte.
    »Karoline«, wollte er rufen, »Karoline, ich brauche dich, jetzt, sofort! Spiel mir das Requiem von Berlioz vor, das wird mir helfen.« Noch ein paarmal versuchte er, »Karoline« zu rufen, dann kam ihm ein Gedanke: Beten! Ich muss beten. Das ist sicher das Beste. Aber was soll ich beten? Ach ja, wie ging das Gebet noch, das Rabbiner Rosenak mir beigebracht hat: » Schma Israel, Adonai Elohejnu, Adonai echad [Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig].« Noch zweimal drangen die Worte Schma Israel röchelnd aus seinem blutgefüllten Mund. Dann verstummte er.

36
    F RANKREICH
— Oktober 1918 —
    Louis hatte anfangs nur das Röcheln vernommen. Doch als er genau hinhörte, konnte er die Worte verstehen. Seine Mutter hatte ihm eingeschärft, er solle diese Worte sagen, wenn er Angst habe oder in Gefahr sei. Er hatte das Schma Israel bei seiner Bar-Mizwa in der Synagoge rezitieren müssen. Damals glaubte er, der Rabbiner habe ihn das Gebet aufsagen lassen, weil er solche Angst vor der schrecklichen Zeremonie in der Synagoge hatte. ›Aber was hat das mit dem feindlichen Soldaten zu tun, der dort, ein paar Meter von mir entfernt, auf dem Boden liegt? Ob er auch Jude ist? Ein deutscher Jude? Hat seine Mutter ihm auch dieses Gebet beigebracht?‹ Doch Louis fasste sich schnell. Wer immer der Deutsche war, den er getroffen hatte, er lief gewiss nicht allein im Nebel herum. Er musste schnellstens zu seinen Männern zurück.

37
    B ERLIN
— Herbst 1918 —
    Nachdem sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hatten, wurden die Spannungen zwischen Karoline und ihren Eltern unerträglich. Zwar verlangten sie nicht direkt eine Abtreibung von ihr, doch sie bestanden mit allem Nachdruck darauf, dass sie sich gänzlich und für immer von Ludwig lossagte. An Ludwigs Eltern mochte sich Karoline nicht wenden. Die waren ihr letztlich doch fremd. Nur Friede kam ihr zu Hilfe und lud sie nach Berlin ein. Zunächst zögerte Karoline, die Einladung anzunehmen. ›Ich muss mich erst mit meinen Eltern einigen‹, dachte sie, ›man darf diese Dinge nicht ungeklärt lassen. Jede noch so schlechte Übereinkunft ist besser als der jetzige Zustand.‹ Da reiste Friede kurz entschlossen zu ihr nach Frankfurt. Der Empfang im Hause Schulzendorf war kühl. Im Gegensatz zu früher sahen die Eltern in Friede nicht mehr die reifere, erfahrene und vernünftige Freundin, die einen guten Einfluss auf Karoline ausübte, sondern regelrecht eine Feindin. Schließlich ist sie Jüdin, sagten die Eltern sich. Sie wird unter allen Umständen zu ihrem Glaubensgenossen, diesem Kronheim, halten.
    Doch die Eltern Schulzendorf brauchten sich nicht lange mit ihren Zweifeln zu plagen. Friede überzeugte ihre Freundin sehr rasch, mit ihr nach Berlin zu kommen. Erst im Zug erzählte sie, was in den langen Monaten seit ihrem letzten Treffen passiert war. Innerhalb weniger Wochen hatte die Familie zwei Hiobsbotschaften erhalten: Friedes Brüder Max und Julius waren gefallen. Der Ältere in den sinnlosen letzten Gefechten mit den Italienern, die eigentlich schon geschlagen waren. Der Jüngere in einem U-Boot, das aus Wilhelmshaven ausgelaufen und vermutlich von einem feindlichen Zerstörer versenkt worden war. Einige Wochen nachdem es spurlos verschwunden war, gab das Reichsmarineamt bekannt,
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