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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll
Autoren: Avi Primor
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die gesamte Besatzung sei umgekommen. Auch von Friedes drittem Bruder hatten sie keine Nachricht. Sein letzter Brief war vor geraumer Zeit von den Schlachtfeldern am Chemin des Dames gekommen. Friede widmete den größten Teil ihrer arbeitsfreien Zeit der Betreuung ihrer verzweifelten, völlig gebrochenen Eltern.
    »Es ist so bitter«, sagte sie schließlich mit leiser Stimme. »Erst verliere ich gleich zu Beginn des Krieges meinen Verlobten, und dann brechen nacheinander, wie die ägyptischen Plagen, die Nachrichten vom Tod meiner Brüder herein, und auch von dem dritten Bruder fehlt jede Nachricht. Wie kann man Menschen in diesem Zustand trösten? Meine Mutter weint Tag und Nacht, und mein Vater starrt in die Luft. Es klingt grausam, aber um ehrlich zu sein: Ich wünsche mir, dass der Tod sie so bald wie möglich erlöst.«
    »Warum hast du mir nichts davon erzählt?«, sagte Karoline beschämt. »Ich schreibe dir seitenlang über meine Probleme, und du erzählst mir von deinem Alltag, um mich aufzuheitern, ohne ein Wort davon zu sagen, was euch passiert ist!«
    »Warum hätte ich es dir schreiben sollen? Das hätte dich nur belastet und die Stimmung in deiner Familie noch verschlimmert. Genützt hätte es jedenfalls nichts. Jetzt bist du fort von zu Hause, und wenn du bei uns in Berlin ankommst, wirst du ohnehin die schreckliche Wahrheit erfahren. Deshalb musste ich es dir erzählen.«
    Ludwigs letzten Brief erhielt Karoline in Berlin. Er war schon lange dazu übergegangen, ihr nur noch postlagernd zu schreiben. Vor ihrer Abreise aus Frankfurt hatte Karoline im Postamt einen Antrag auf Nachsendung postlagernder Sendungen an Friedes Adresse gestellt. Der Brief gab ihr neuen Mut. Wie sehr Ludwig sie liebte, wie verständnisvoll und einfühlsam er war!
    Zu Friede sagte sie: »Ich bin mir ganz sicher, dass ich mit Ludwig ein wunderbares gemeinsames Leben aufbauen kann, auch ohne die Zustimmung und Unterstützung meiner Eltern.« Auch er werde seinen Eltern nicht erlauben, sich in ihr Leben einzumischen, versicherte sie. Seine Mutter stehe auf ihrer Seite, auch wenn sie das nicht offen zeigen könne. Sie habe sich hin und wieder mit ihr getroffen und sei immer freundlich und liebevoll gewesen. Sein gestrenger Vater werde wohl noch eine Weile den Beleidigten spielen und sich letzten Endes damit abfinden, und wenn nicht, sei das auch kein Unglück. Ludwig sei ohnehin froh, sich von der Bevormundung durch diesen Mann zu befreien.
    Karoline half ihrer Freundin nach Kräften im Haus und bei der Betreuung der Eltern, damit Friede ihren Dienst in einem Baubüro leisten konnte. Allein die Eltern aus dem Schlafzimmer in den Wohnbereich zu locken forderte größte Überredungskunst.
    Die Lektüre der Briefe ihrer Eltern aus Frankfurt schob Karoline immer wieder auf, weil sie wusste, dass sie Vorwürfe und Anweisungen enthalten würden, wartete aber täglich auf eine Nachricht von Ludwig. »Warum schreibt er nicht«, klagte sie Friede ihr Leid, »er hat doch immer so oft geschrieben.«
    »Woher weißt du, dass er nicht schreibt?«, hielt Friede ihr vor. »Wenn du gewöhnt bist, die Zeitungen kritisch zu lesen, das heißt, auch zwischen den Zeilen, dann wird dir klar, dass es an der Front sehr schlecht für uns steht. Wir sind im Rückzug, und es herrscht dort ein Durcheinander, das man schon fast als Chaos bezeichnen kann. Ich würde mich nicht wundern, wenn ganze Stapel von Ludwigs Briefen irgendwo auf einem Postkarren oder in einer vergessenen Feldpoststelle herumliegen. Wenn der Krieg zu Ende ist, werdet ihr alle eure Briefe, die jetzt nicht zugestellt werden, auf einen Schlag kriegen«, fügte sie lachend hinzu. »Wieso beklagst du dich überhaupt, dass du keine Briefe bekommst? Hauptsache, du hast deinen Liebsten noch!Der Vater deines Kindes lebt! Er wird bald zurückkehren, und dann könnt ihr zusammen leben.«
    Einige Tage später verspürte Karoline Schmerzen. Friede brachte sie zu Dr.Stolte, dem Hausarzt der Familie. Der Arzt untersuchte sie und riet ihr, ins Krankenhaus zu gehen, doch Friede wusste, dass sie wegen des Notstands in den Krankenhäusern nicht sofort einen Platz für ihre Freundin finden würde. Während der Arzt und die beiden Frauen noch überlegten, was zu tun sei, überrollte Karoline eine Welle heftiger Schmerzen.
    Dr.Stolte untersuchte sie nochmals. »Das sind die Wehen, junge Frau!«
    »Aber sie ist doch erst im siebten Monat«, mischte Friede sich ein.
    »Das kommt häufiger vor«, sagte der Arzt.
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