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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll
Autoren: Avi Primor
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Republik in der alten Heimat begrüßt werden.
    Nach der Zeremonie wurde Louis aufgefordert, sich bei dem Armeerabbiner Jacob Kaplan einzufinden. Das war ihm gar nicht recht, hatte er doch wenig Lust, sich Dankgebete oder Predigten anzuhören. Die wenigen Urlaubsstunden in der Stadt wollte er dazu nutzen, Élise zu treffen, die sehnsüchtig auf ihn wartete. Die Familie Lichentin war aus Paris angereist, um Verwandte wiederzusehen, die auch unter deutscher Herrschaft in Metz geblieben waren. Louis und Élise hatten sich bei diesenVerwandten verabredet. Doch da der Rabbiner Majorsrang hatte und damit sein militärischer Vorgesetzter war, musste Louis gehorchen. Ungeduldig fand er sich mit noch ein paar Dutzend Soldaten bei dem Rabbiner ein.
    »Ich habe Sie aus einem besonderen Grunde hergebeten«, begann der Geistliche in Uniform. »Ich möchte Sie zu einer Ehrung der jüdischen Soldaten unserer Armee einladen, die heute Abend stattfindet und bei der wir auch der jüdischen Gefallenen gedenken. Die Feier wird unter der Leitung des Oberrabbiners Nathan Netter in der Großen Synagoge stattfinden, im Beisein des Präsidenten des Israelitischen Konsistoriums, Baron Édouard de Rothschild. Aber vor allem erwarten wir als Ehrengast den Marschall von Frankreich, Philippe Pétain. Ich möchte Sie nun nicht länger aufhalten«, fügte der Rabbiner hinzu, »aber vergessen Sie heute Abend nicht, in Ihrer Paradeuniform zu erscheinen.«
    Louis fasste sich ein Herz und trat auf ihn zu. »Herr Major, ich habe eine Frage.«
    »Nur zu«, antwortete der Rabbiner.
    »Kann ich heute Abend eine Begleiterin mitbringen?«
    »Sie haben reservierte Plätze, aber ich werde sehen, was sich machen lässt. Wen wollen Sie mitbringen? Ist Ihre Gattin in der Stadt?«
    »Ja … ja gewiss, meine Gattin, Herr Major«, sagte Louis schnell, um weiteren Fragen zuvorzukommen.
    »Ich werde dafür sorgen«, versprach der Rabbiner.
    Die Feier in der Synagoge war eine Art jüdisches »Te Deum« zu Ehren von Frankreichs Sieg, aber auch ein Dankgebet für die endlich erfolgte volle Integration der Juden in das französische Volk. Pétains Stabsoffiziere saßen mit den jüdischen Honoratioren einträchtig auf einer Bank, und Pétain selbst saß auf einem vergoldeten, rot gepolsterten Prunksessel neben dem Thoraschrein. Auf der anderen Seite des Schreins saß ein weiterer Ehrengast, dessen Anwesenheit fast noch wichtiger war: Oberstleutnant Alfred Dreyfus in voller Montur, mit Paradeuniform, Orden und Säbel. Im Gegensatz zu jenem schrecklichen Januartag im Jahre 1895, als er im Hof der École militaire degradiert und sein Säbel öffentlich zerbrochen worden war, machte ihm jetzt niemand mehr das Recht streitig, die Paradewaffe zu tragen.
    Rabbiner Netter hielt eine flammende Rede auf die französische Armee, die Republik und natürlich den Marschall von Frankreich. Er pries den General von Verdun, »der Frankreich gerettet« habe, seinen menschlichen Umgang mit den Soldaten, dem er seine allgemeine Beliebtheit verdankte, sowie seine väterliche Anteilnahme am Wohlergehen der jüdischen Soldaten. Der bejahrte Feldherr hob ab und zu den blauen Marschallstab, um seinem Dank oder seiner Zustimmung Ausdruck zu verleihen.
    Nach der Rede trug der Vorbeter ein Dankgebet für die Wiedervereinigung von Elsass-Lothringen mit Frankreich vor und dankte Gott im Namen der Versammelten für den Sieg Frankreichs nach einem langen, bitteren Krieg. Der Chor sang, von der Orgel begleitet, das Halleluja und zum Abschluss die Marseillaise. Rabbiner Netter beendete die Feier mit einem an Pétain gerichteten Segensspruch, der nach jüdischer Tradition beim Anblick von nichtjüdischen Königen oder Herrschern rezitiert wird: »Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der von seiner Herrlichkeit seinen Geschöpfen gegeben hat.«
    Das Publikum erhob sich und wiederholte den Segensspruch auf Hebräisch und Französisch. Marschall Pétain und Oberstleutnant Dreyfus gingen zu den jüdischen Soldaten, die, angeführt von Rabbiner Kaplan, im hinteren Teil der Synagoge standen. Pétain drückte jedem von ihnen herzlich die Hand. Einige der Soldaten hatten Tränen in den Augen.
    Als Louis und Élise nach der bewegenden Feier durch die Stadt bummelten, sagte sie nachdenklich: »Für mich ist das etwas ganz Besonderes gewesen. Ihr Juden aus Bordeaux seid ja schon seit jeher integriert. Wir in Elsass-Lothringen hingegen waren die Letzten, die als Franzosen akzeptiert wurden, und ich bin
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