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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll
Autoren: Avi Primor
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Dienstmädchen überlassen. Oder ich bitte eine Freundin, sie zu hüten. Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen.«
    »Darum geht es gar nicht«, gab Karoline zurück. »Auch wenn die Kinder noch so klein sind, soll sich der historische Wandel, dessen Zeugen wir sind, ihren zarten Seelen von Anfang an einprägen. Ein Wandel, von dem ihr Vater geträumt hat. Der sich in einem Deutschland vollzieht, aus dessen Tragödie jetzt neue Hoffnung erwächst. Die Hoffnung, dass Juden endlich Deutsche wie alle anderen sein können, ohne Angst und ohne Minderwertigkeitsgefühle. Sie sollen erfahren, dass zu diesem hart erkämpften Glück auch ihr Vater beigetragen hat.« Friede war zu sehr Verstandesmensch, um sich von den sentimentalen Argumenten ihrer Freundin beeindrucken zu lassen, doch sie wusste, dass sie diesmal Karolines Gefühlsausbruch keinen Widerstand entgegensetzen durfte.
    Ludwigs Mutter hatte bescheiden dabeigestanden und mit Tränen in den Augen zugehört. »Ich hätte eine Idee«, sagte sie, »wie man verhindern kann, dass die Zwillinge die Feier stören. Viel verstehe ich zwar nicht von der jüdischen Tradition, aber doch genug, um zu wissen, wie man dafür sorgt, dass ein Säugling sich bei einer Zeremonie in der Synagoge ruhig verhält. Verlasst euch auf mich.«
    Seit Karoline und Frau Kronheim mit Sara und Israel zu den Friedmanns gezogen waren, waren die beiden Frauen sich nähergekommen. »Du bist meine Tochter, die Mutter meiner Enkel«, sagte Selma immer wieder zu Karoline. »Dank dir und den Kindern kann ich den Verlust meines Sohnes vielleicht überwinden. Ihr seid meine Familie, und dieses Gefühl ist noch stärker geworden, seit du beschlossen hast, sie als Juden zu erziehen. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass du mich in deine Familie aufnimmst.«
    Karoline schwieg eine Weile. »Auch du bist mir ein großer Trost«, sagte sie schließlich. »Du bist nicht nur die Mutter meines Liebsten, sondern auch die Großmutter meiner Kinder.« Von Vater Kronheim und Karolines Eltern sprachen beide nicht.
    Ein lautes Klingeln unterbrach das Gespräch. Friede ging ans Telefon und rief nach kurzer Zeit mit aufgeregter, hoher Stimme: »Ja, natürlich, sofort! Ich warte vor dem Haus.« Sie legte auf und lief jubelnd zu den Eltern: »Willi! Willi kommt! Gerade hat jemand von der Armee angerufen, ob sie Willi bringen können. Ich gehe schon nach draußen, ich habe keine Geduld, drinnen zu warten.« Weder Friede noch die anderen Hausbewohner kamen auf die Idee, sich zu fragen, warum Willi von der Armee gebracht wurde. Soldaten kehren normalerweise selbstständig und ohne Begleitung nach Hause zurück. Die Aufregung war so groß, dass niemand sich darüber Gedanken machte.
    Alle begleiteten Friede zur Haustür, auch Karoline und Frau Kronheim mit den Zwillingen auf dem Arm. Dort warteten sie lange in der Kälte, bis endlich eine Ambulanz vor dem Haus hielt. Der hintere Wagenschlag öffnete sich, und ein Soldat stieg aus. Er beugte sich mit dem Oberkörper in den Wagen und half Willi beim Aussteigen. Der hatte einen langen weißen Stock in der Hand. Seine Augen waren von einer schwarzen Maske verdeckt. Willi war blind.
    »Ein Angriff mit Senfgas«, sagte der Sanitäter. »Er hatte wohl keine Gasmaske.«

40
    B ERLIN
— Dezember 1918 —
    Als sich die Familie auf den Weg zur Oranienburger Straße machte, waren die Straßen voller Menschen. Doch die Menge drängte sich nicht zur Neuen Synagoge, sondern zum Brandenburger Tor. Es hatte sich herumgesprochen, dass Friedrich Ebert, der Präsident der neu gegründeten Republik, dort anlässlich der Heimkehr vor Frontsoldaten eine Rede halten würde. Die Limousine, die Friede bestellt hatte, kam nur langsam vorwärts und musste anhalten, weil die Straßen verstopft waren. Die Friedmanns, gefolgt von Karoline und Frau Kronheim mit den Zwillingen auf dem Arm, stiegen aus und betrachteten das Gedränge, während Willi im Wagen blieb. »Hören kann ich auch im Sitzen«, sagte er. Zeit hatten sie genug, weil sie vor Aufregung viel zu früh aufgebrochen waren.
    Eine Abordnung gut gedrillter Soldaten marschierte in Paradeformation durch das Brandenburger Tor, das mit den Fahnen der Reichswehr geschmückt war, und machte vor einem Podium halt, auf dem Reichspräsident Ebert und eine Gruppe von Honoratioren standen. Ebert sprach mit großem Pathos. »Eure Opfer und Taten sind ohne Beispiel. Kein Feind hat euch überwunden … Allen Schrecken habt ihr mannhaft widerstanden –
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