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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll
Autoren: Avi Primor
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preußischen Staat schuldig war. Er strich sich über den schmalen Schnurrbart und verschränkte die Arme vor seiner Brust. »So, so«, sagte er ruhig, »Ihr Klassenkamerad Kronheim hat sich gewehrt. Was haben Sie einzuwenden dagegen?«
    Der dicke Müller wurde sichtlich verlegen. »Na, die Franzosen verlieren doch immer«, brachte er schließlich heraus. »Und überhaupt, ich weiß nicht, was so ein Jude…« Unsicher sah er sich um, fand aber nirgendwo Unterstützung.
    »Es reicht«, sagte Stegemann. »Müller, ab sofort gehören Sie zu den ›Franzosen‹! Vielleicht lernen Sie dann, was ritterlich kämpfen heißt. Kronheim, Sie sind jetzt ein ›Deutscher‹.« Stegemann sah sich mit Adlerblick auf dem »Schlachtfeld« um, wo die Jungen die Blicke senkten.
    » W EITERMACHEN! «, schrie er. » A TTACKE! «
    Normalerweise kam Ludwig an diesen Manövertagen in ausgelassener Stimmung nach Hause in die schöne Wohnung in der Königsteiner Straße, doch diesmal war seine Stimmung gedrückt. Er hätte gern mit seinen Eltern über den Vorfall geredet, doch seit er siebzehn war, hatte er sich immer weiter von ihnen entfernt und war der Ansicht, er müsse mit seinen Problemen selbst fertig werden.
    »Was ist los mit dir?«, fragte seine Mutter gleich, als er die Wohnung betrat, seine Jacke ordentlich an die Garderobe hängte und seine Schuhe wechselte.
    »Ach, nichts.« Er hatte jetzt keine Lust, darüber zu reden. Vielleicht später einmal. Trotz aller Strenge beider Eltern war seine Mutter die sensiblere und versuchte, verständnisvoll zu sein, doch sie konnte sich, auch wenn sie sich bemühte, nicht richtig in ihn hineinversetzen, und er wollte jetzt keine langen Erklärungen abgeben.
    »Du hast doch etwas, das sehe ich dir an«, beharrte sie. »Ich kenne dich genau, mein Liebling.«
    Damit hatte sie recht. Früher hatte sie immer viel mit ihm geredet, ihm Geschichten erzählt und ihn in allem und jedem ermutigt. Er spürte zu ihr eine weit größere Nähe als zu seinem Vater, der sich immer sehr distanziert gab, geradezu verschlossen. ›Vielleicht bin ich ungerecht‹, dachte er. ›Sie bemüht sich ja, mich zu verstehen.‹ Trotzdem versuchte er, ein längeres Gespräch zu vermeiden. Es änderte ja doch nichts mehr. »Es war nur anstrengend. Ich möchte mich ausruhen«, gab er vor.
    »Das nehme ich dir nicht ab.« Seine Mutter konnte sehr hartnäckig sein.
    Ludwig spürte den Ärger in sich aufsteigen, den er vorhin geschluckt hatte. Sie würde ohnehin keine Ruhe geben und ihn nicht in sein Zimmer gehen lassen, bevor sie nicht zufrieden war. »Jemand hat mich vors Schienbein getreten«, brummte er. »Nichts Besonderes, wirklich. Ich habe gar nicht darauf reagiert und wollte mich nicht auf einen Streit einlassen. Das wäre auch gut gegangen, wenn Doktor Stegemann nicht gewesen wäre. Ich wollte auf keinen Fall petzen, das ist feige. So einen Tritt, den bekomme ich halt öfter. Das tut weh und macht mich ganzschön ärgerlich, aber ich will keinen Streit mit den anderen, das macht alles nur schlimmer. Die sollen mich einfach in Ruhe lassen. Aber diesmal hat Doktor Stegemann alles gesehen.«
    »Und? Was ist daran so schlimm? Dann bekommt dieser Junge eben mal eine Standpauke.«
    Ludwig schüttelte den Kopf. »Bei einer Standpauke belässt es der Stegemann nicht, du kennst ihn doch auch, ich habe dir oft erzählt, wie er ist. Da kommt immer noch eine andere Strafe nach. Diesmal wurde Müller zu den ›Franzosen‹ versetzt, und ich war ›Deutscher‹ an seiner Stelle.« Er spürte Ungeduld in sich aufsteigen, er wollte jetzt in sein Zimmer.
    »Und das nächste Mal geht es wieder umgekehrt, und er wird wieder auf deutscher Seite in den Kampf ziehen, das weiß ich«, versuchte seine Mutter, ihn zu trösten. »Du wirst sehen, das vergisst er schnell.«
    Ludwig schüttelte den Kopf. »›Franzose‹! Das ist doch eine Schande für ihn«, erwiderte er. »Und das vor den Augen aller anderen! Er wird niemals vergessen, dass er wegen eines Juden geschmäht wurde. Nie!« Die Wut trieb ihm plötzlich Tränen in die Augen.
    »Ich werde mal mit den Eltern sprechen und dafür sorgen, dass sie ihrem Sohn ins Gewissen reden.«
    »Bloß nicht.« Merkte sie denn nicht, wie peinlich das für ihn wäre? »Damit machst du es nur schlimmer! Das ist doch in Nullkommanichts in der ganzen Klasse herum, und ich habe plötzlich Krach mit jedem. Für mich ist die Sache erledigt. Müller plappert vielleicht nur nach, was er von anderen hört.
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