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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll
Autoren: Avi Primor
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bezeichnet hätte. Ludwig beschwor solche Gedanken bisweilen herauf, um sich über seinen Ärger hinwegzuhelfen. Das klappte auch jetzt, als er sich eine allabendliche Szene vor Augen führte. Dr.Kronheim vergaß nie, vor dem Zubettgehen sein Haar mit einem eng anliegenden Netz zu bändigen. Noch wichtiger als die Frisur war ihm sein mächtiger Schnauzbart mit den aufwärts gezwirbelten Spitzen. Um diese Form getreu dem kaiserlichen Vorbild zu erhalten, spannte der Vater jede Nacht ein Netz über die Oberlippe, das im Nacken zusammengebunden wurde. Als Kind hatte Ludwig sich vorgestellt, dass es der Kaiser genauso hielt. Jetzt, in seinem etwas fortgeschrittenen Alter, fragte Ludwig sich, ob man mit so einem Bartnetz auch küssen konnte. Aber eine körperliche Liebesbeziehung schien ihm bei seinem Vater ohnehin völlig undenkbar. Vielleicht war das Märchen, dass der Storch die Kinder in die Welt brachte, doch nicht ganz falsch.
    Dennoch hatte sein Vater, der in Ludwigs Augen irgendwo zwischen Pedanterie und Lächerlichkeit pendelte, einen gewaltigen Einfluss auf ihn. Ludwig würde es ihm nämlich zeigen. Er würde erfolgreicher sein als sein Vater. Ob das mit Fleiß gelang? Das Abitur war nicht mehr weit, und er musste sich ins Zeug legen. ›Ich werde auf jeden Fall studieren‹, dachte Ludwig, ›aber nicht dasselbe wie Vater. Ich will kein Mediziner werden, der anderen in den Hals schauen muss und den Frauen den Puls nimmt.‹ Es musste etwas sein, was Karriere und Ansehen versprach, das war das Wichtigste.
    Er würde dem Staate dienen, so viel war klar. Er würde für Gerechtigkeit sorgen wie Dr.Stegemann, nur in ganz anderem Maßstab. War es denn völlig undenkbar, dass er Minister wurde? Oder zumindest Richter oder Professor? Ans Militär brauchte er nicht zu denken, trotz seiner vaterländischen Gesinnung,denn es war allgemein bekannt, dass ein Jude unter keinen Umständen die geringste Chance hatte, in der Armee Karriere zu machen oder auch nur Offizier des niedrigsten Ranges zu werden. Selbst der Kaiser hätte ihm da nicht helfen können. Aber Jura, das war etwas anderes. Juristen wurden immer gebraucht, nicht nur bei den Gerichten. Niemand würde ihn dann als Juden benachteiligen oder verspotten. Zwar war es nicht vielen Juden gelungen, in den Staatsdienst aufgenommen zu werden, aber gerade deshalb wäre es ein Durchbruch auf diesem Gebiet, ein befreiender, ja erlösender Schritt.
    ›Ja, das war’s‹, dachte er. Sein Vater würde zu ihm aufschauen, und nicht nur er, sondern all die ehrenwerten Bürger, um deren Gesellschaft und Anerkennung sein Vater sich so angestrengt wie vergebens bemühte.
    Ein lautes Scheppern in der Diele riss ihn aus seinem Schlaf. In Sekundenschnelle war er vom Bett hoch, rieb sich die Augen, griff nach seinem Kamm in der Hosentasche und richtete sein Haar, bevor er ins Esszimmer ging. Er musste schließlich anständig aussehen und verbergen, dass er untertags geschlafen hatte. Als er den Flur hinaufkam, hatte seine Mutter einen Topfdeckel in der Hand, den sie offenbar mit Absicht fallen gelassen hatte, um ihn zu wecken. Sie zwinkerte ihm zu.

2
    B ORDEAUX
— Frühjahr/Frühsommer 1913 —
    Louis hatte es eilig, zur Backstube zu kommen. Nach der Schule war er erst um halb fünf nach Hause gekommen. Die halbe Stunde Schulweg hatte er in schnellem Schritt zurückgelegt. Ihm lag es nicht, mit anderen Jungen noch ein Weilchen herumzutrödeln. Er hatte sowieso keine richtigen Freunde, mit denen er gern seine Zeit verbracht hätte.
    Er wollte seinen Vater begleiten, wenn dieser nach einem kurzen Mittagsschlaf in die Backstube zurückging, um die Vorbereitungen für morgen zu treffen. Die Arbeit begann für Vater um drei Uhr in der Frühe, da musste alles bereitliegen, gereinigt und sortiert, damit man nichts lange suchen musste. Als Letztes wurde abends der Hefeteig vorbereitet und in der Wärmekammer neben dem Backofen bereitgestellt. Die Heizkammer des Backofens, in der man aufrecht stehen konnte, war zuvor ausgeräumt worden, der Ruß ausgefegt und neues Feuerungsmaterial aufgeschichtet. Die Glutnester der Braunkohle waren behutsam in einen Blecheimer geschaufelt, sorgfältig mit pulveriger grauer Asche abgedeckt und in eine noch heiße Ecke des Mauerwerks gestellt worden, damit der Geselle, der schon um zwei kam, den großen Ofen schneller anheizen konnte. Der riesige, mit Schamotteblöcken ausgelegte Metallwagen war schon mittags von jedem Krümelchen und jedem Rest Mehlstaub
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