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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll
Autoren: Avi Primor
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schon sagen. Dieser ganz in sich gekehrte Junge zwischen all den Söhnen aus der Bürgerschaft – Söhne von Anwälten und Ärzten, Lehrern und höheren Beamten! Er muss sich ganz klein vorgekommen sein. Was hätten Sie gemacht, wenn es schiefgegangen wäre?«
    Louis wusste im Voraus, was sein Vater antworten würde. »Er hätte immer noch Bäcker werden können, wie sein Vater und sein Großvater. Er ist mir schon als Kind so oft in der Backstube zur Hand gegangen und hat manchmal sogar allein den Backofen gereinigt. Wenn ich nicht eingeschritten wäre, hätte er am liebsten seine kostbare Zeit mit Reparaturen verbracht statt mit Lernen.«
    »Immerhin, ein Bäcker mit Bildung dann«, hörte er den Maître noch sagen, der sich jetzt aber anderen Leuten zuwandte – er musste der Familie eines Beamten von der Präfektur gratulieren.
    »Mein lieber Louis!« Seine Mutter hatte ihn abseits stehen sehen und schloss ihn in die Arme. »Zu Hause werden wir dich richtig feiern! Hier ist ein wenig zu viel Trubel. Du kannst dichauf eine Überraschung gefasst machen.« Sie sah in die Runde, und Louis’ Schwestern Éliane, Corinne und Françoise lächelten geheimnisvoll.
    »Wir haben zu deinen Ehren die gesamte Verwandtschaft aus Bordeaux und sogar aus Avignon zum Abendessen eingeladen«, sagte Vater. »Schließlich ist dies ein historischer Anlass: Du bist der erste Naquet, der das Abitur gemacht hat. Dass du zu den Besten deines Jahrgangs gehörst, wird auch für sie eine Überraschung sein. Und wer, glaubst du, wird als Ehrengast neben dir sitzen? Rate mal.«
    Louis kam nicht darauf, wen er meinen könnte. Vielleicht ein Schulkamerad, von dem die Eltern glaubten, er hätte sich mit ihm angefreundet? Aber da kam niemand infrage. Heute feierten ja alle zu Hause, es sei denn, sie hatten keinen Anlass, und dann wäre es ihnen unangenehm, eingeladen zu werden. Das würden seine Eltern keinem antun. Nein, Louis konnte sich niemanden denken. »Der Rabbiner?«, sagte er ins Blaue hinein.
    Vater schüttelte den Kopf. »Eine alte Dame«, sagte er. »Schon in Pension, aber bei klarem Verstand, und deshalb hat sie unsere Einladung gern angenommen.«
    »Alte Dame? Ihr meint doch nicht etwa…«
    »Madame Duprez«, platzte seine Schwester Éliane heraus. Sie hatte noch nie ein Geheimnis für sich behalten können und wollte immer diejenige sein, die eine Neuigkeit als Erste herausposaunte. Sie war die jüngste der drei, aber immer noch deutlich älter als Louis, der Nachzügler.
    »Madame Duprez!« Louis fiel erst Mutter, dann Vater in die Arme. »Eine größere Freude hättet ihr mir nicht machen können.«
    »Gehen wir!«, sagte die Mutter. »Deine Schwestern und ich haben noch eine Menge vorzubereiten, ehe die Gäste kommen.«
    Die Familie Naquet machte sich auf den Heimweg ins Sauteyron, das in der Nähe des alten jüdischen Friedhofs lag, wo die Mitglieder der Familie seit zweihundertfünfzig Jahren begrabenwurden. Es war ein bescheidenes Viertel, in dem viele Nachkommen der Juden lebten, die Anfang des siebzehnten Jahrhunderts von Avignon nach Bordeaux übergesiedelt waren. Das Haus der Familie Naquet glich den übrigen Häusern der Straße wie ein Ei dem anderen: Es war einstöckig, hatte in der Mitte einen Korridor, von dem vier Zimmer abgingen, und einen kleinen Hintergarten. Die drei älteren Schwestern hatten sich früher ein Zimmer geteilt, während Louis, der Jüngste, als einziger Sohn und »Kronprinz« eines für sich allein hatte. Seit die Mädchen ausgezogen waren, diente ihr Zimmer als Gästezimmer, und sie bewohnten es manchmal selbst, wenn sie die Eltern besuchten. Louis’ Zimmer wurde gehütet wie ein Heiligtum, und er wusste, dass es auch in Zukunft immer für ihn bereitstehen würde.
    Auf dem Heimweg freute er sich auf seinen »Ehrengast«. Dass er nicht sofort an sie gedacht hatte! Seine alte Volksschullehrerin Anne Duprez war neben seinen Eltern wohl der wichtigste Mensch in seinem Leben. Er hatte sie mit der ganzen Kraft seines kindlichen Herzens geliebt. Der Gedanke, sie noch heute wiederzusehen, war ihm beinahe wichtiger als die Urkunde, die der Direktor ihm überreicht hatte.
    Sie war streng gewesen, aber er hatte damals schon gespürt, was sie mit ihm im Sinn gehabt hatte. Obwohl er noch ein Kind gewesen war, hatte sie mit ihm geredet, als verstünde er alles so gut wie ein Erwachsener. Sie hatte ihn ernst genommen, mit all seinen kleinen Sorgen. Sie wusste, dass er begabt war und nur nicht wagte, sein
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