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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll
Autoren: Avi Primor
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gemeinsam an die Reinigungsarbeiten, wobei sie sich, wie immer, angeregt unterhielten. Vater Lucien besaß selbst keine formale Bildung, war aber ein regelrechter Bücherwurm. Obwohl er schon lange vor Tagesanbruch am Backtrog stand, vertiefte er sich jeden Abend in die Bücher. Er lieh sie sich stapelweise aus der Bibliothèque municipale aus, die sich in dem alten Gebäude des Dominikanerklosters befand. Vater hatte immer davon geträumt, dass sein Sohn Louis das Gymnasium besuchen würde, was ihm selbst verwehrt geblieben war. In einem halben Jahr würde Louis die Prüfungen machen, und wenn nichts dazwischenkam, war er der erste Naquet, der studieren würde. Er würde ein zweiter Eiffel werden, er würde Autos bauen, Schiffe oder gar Flugzeuge. Der Bäcker war unendlich stolz auf seinen klugen Sohn.
    »Louis Naquet!« Die Stimme des Schulleiters, der pedantisch von seiner Namensliste ablas, tönte durch die Aula des Lycée Michel-Montaigne, das zu den besten in Frankreich gehörte.
    Der Bäckermeister Naquet schreckte auf und stieß seinen Sohn an, der zwischen ihm und seiner Frau in der ersten Reihe saß.
    »Du bist aufgerufen worden!«
    Der Junge sprang vor und stolperte fast auf das erhöhte Podium. Die ganze Zeit hatte der Bäckermeister gefürchtet, dass man seinen Sohn vergessen haben könnte, während ein Schüler nach dem anderen nach vorn gerufen wurde und sein Zeugnis in Empfang nahm, bis nur noch wenige Namen übrig waren. Das konnte zweierlei bedeuten – wenn der Name Naquet noch genannt wurde, hieß das, sein Sohn gehörte zu den Besten.Wurde er gar nicht erwähnt, war der Junge durchgefallen, und die Familie hatte nur den Brief noch nicht bekommen, der in diesem Fall nach Hause geschickt wurde. Dass Louis zu den besten Prüflingen gehörte, hatten weder er noch sein Sohn zu hoffen gewagt. Es war für den Jungen schon schwer genug gewesen, überhaupt einen Platz im Lycée zu bekommen. Louis war der Erste in der langen Familiengeschichte der Naquets, der ein Gymnasium besuchen konnte, und Lucien war ungeheuer stolz auf ihn.
    Er erlebte es wie im Traum, wie sein Sohn jetzt aufgeregt, mit leicht geröteten Wangen und wahrscheinlich mit zitternden Knien da oben stand und nicht wusste, wohin er schauen sollte. Einen »sehr selbstständigen Kopf«, nannte ihn der Direktor, »einen jungen Mann, der in der besten Tradition unserer Schule steht und von dem wir noch viel erwarten dürfen.« Er übergab ihm die Urkunde, umarmte und küsste ihn förmlich auf beide Wangen. Louis stellte sich in die Reihe der Mitschüler, die vor ihm auf die Bühne gekommen waren, und wartete mit ihnen auf das Ende der Feier. Als das Schulorchester die Marseillaise anstimmte, blickte er auf seine Eltern hinunter. Sein Vater lächelte ihm zu, sein Gesicht schien vor Stolz zu glühen. Für ihn und die ganze Familie, einschließlich seiner drei Schwestern, die wie die Hühner auf der Stange saßen, war das der größte Tag der Familiengeschichte.
    Als Louis jetzt zu seinen Eltern trat, waren sie von zahlreichen Gratulanten umringt. Vater legte ihm einen Arm um die Schulter und sagte immer wieder: »Wer hätte das gedacht! Wer hätte das gedacht!«
    Maître Vernier, der Notar, der sein Haus an der Hauptstraße hatte und dessen Frau zu den Stammkunden der Bäckerei Naquet zählte, nickte bedächtig. »Ja, der schüchterne Junge von damals ist jetzt ein richtiger Mann, ein echter Franzose! Damals, als er zu meinem Sohn in die Klasse kam, habe ich zu meiner Frau gesagt: ›Das geht niemals gut. Der Sohn eines einfachenHandwerkers, dazu noch jüdischer Abstammung, der wird sich nicht lange halten.‹ In diesem Fall habe ich gern mal unrecht! Und wie scheu er damals war! Ich glaube, er hatte nicht einmal Freunde, erinnere ich mich richtig?«
    Louis war es unangenehm, dass in seiner Gegenwart so über ihn gesprochen wurde. Er wich einen Schritt zurück und schaute verlegen zu Boden.
    »In der Volksschule war es schlimmer«, erwiderte sein Vater. »Schon im Kindergarten war er wenig geneigt, sich mit Kindern seines Alters anzufreunden. Er zog sich damals von allem zurück, was neu und unbekannt war. Er weigerte sich sogar, mit Buntstiften zu malen oder zu kritzeln. Er hatte Angst, nicht damit umgehen zu können und sich zu blamieren. Aber wenigstens das hat sich geändert.«
    »Da haben Sie ein gutes Stück Arbeit geleistet«, lobte der Maître jovial. »Trotzdem sehr mutig von Ihnen, den Jungen aufs Gymnasium zu schicken, das muss ich
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