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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll
Autoren: Avi Primor
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gereinigt worden. Auf Sauberkeit wurde in der Bäckerei von jeher besonderer Wert gelegt.
    Louis half seinem Vater bei dieser Arbeit gern, denn er liebte die Atmosphäre der Backstube. Es herrschte eine gemütliche Wärme, was immer willkommen war, wenn man aus der ständigen Brise, die vom Meer herüberkam, in die Backstube trat, und es roch so angenehm nach frischem Brot. In einem Körbchen lagen abgeschnittene Ränder von Blechkuchen, manchmal auch die Krusten eines Brotes, das nicht ganz gelungen war. Normalerweise wanderte ein solches Brot in den Wärmeraum, um zu trocknen und später zu Paniermehl verarbeitet zu werden, aber seit Vater gemerkt hatte, wie gern Louis die Krusten aß, hob er ihm immer ein paar davon auf.
    Noch lieber half Louis am frühen Morgen, wenn Stangenbrot und Hörnchen geformt wurden. Diese Betätigung mit den Händen war ihm eine willkommene Abwechslung zum Schulalltag, an dem er seinen Kopf mit Wissen vollpackte, bis ihm der Schädel brummte. Er ließ es sich nicht nehmen, in den Ferien jeden Tag mit Vater aufzustehen und ihn in die Backstube zu begleiten.
    Noch mehr als diese »äußere Wärme«, wie Louis es nannte, liebte er aber die »innere Wärme«, die Gespräche mit seinem Vater. In der späten Nachmittagsstunde – länger dauerten diese Arbeiten meist nicht – waren sie ganz ungestört und konnten über alles reden, buchstäblich über Gott und die Welt. Louis fühlte sich vom Vater bevorzugt, und offenbar traf das auch zu, denn sonst wären seine drei älteren Schwestern, besonders Corinne, nicht so häufig eifersüchtig oder neidisch gewesen.
    Sie war es, die ihn begrüßte, als Louis jetzt heimkam in das niedrige Gebäude im bescheidenen Stadtviertel Sauteyron. »Du kommst zu spät«, ließ Corinne ihn wissen. »Vater ist schon gegangen. Er konnte nicht auf dich warten, weil er heute mehr zu tun hat als sonst. Eine der Maschinen funktioniert wieder mal nicht.«
    Das war ein Signal für Louis, sich möglichst rasch auf den Weg zu machen. Er begrüßte nur kurz seine Mutter, die ihn nachsichtig gehen ließ. Wenige Minuten später kam er in die Backstube, wo ihn sofort der vertraute Duft und der Lärm der Grillen in der Ofenmauer umfing. Die beiden Katzen ließen von ihrer Mäusejagd ab und strichen ihm um die Beine.
    »Gut, dass du schon da bist!«, rief ihm der Vater entgegen. »Du kannst zum Mechaniker hinüberlaufen und ihm sagen, dass die Bröselmaschine nicht funktioniert. Wir können morgen früh kein Paniermehl anbieten.«
    »Lass mich die Maschine mal ansehen«, sagte Louis. »Ich weiß, was da los ist. Wir hatten das Problem schon mal vor vier Wochen, erinnerst du dich?«
    Ohne die Antwort seines Vaters abzuwarten, trat Louis an die Maschine. Er hängte den ledernen Transmissionsriemen aus, der über eine hoch unter der Decke laufende Welle mit der kleinen Dampfmaschine im Hof verbunden war, und versuchte, die Maschine mit dem Handrad zu bewegen. »Hörst du das Knirschen?«, fragte er. »Da ist wieder etwas im Mahlwerk. Das haben wir gleich.«
    Sein Vater schüttelte den Kopf, während er Louis beim Aufschrauben der Maschine beobachtete. Die Geschicklichkeit, mit der Louis vorging, schien ihn zu begeistern. »Du könntest Ingenieur werden und nicht nur Maschinen reparieren, sondern auch welche erfinden. Nach dem Bakkalaureat kannst du alles studieren, was du willst. Philosophie oder Mathematik, oder eben Technik. Ingenieur Naquet, wie hört sich das an?«
    »Fast so gut wie Bäckermeister Naquet«, erwiderte Louis und begann, das Handrad zu drehen, nachdem die Maschine wieder verschlossen war und der Vater trockene Brotstücke in den Trichter gefüllt hatte. Jetzt, am Nachmittag, gab es im großen Wasserkessel über dem Backofen nicht mehr genug Druck für die Dampfmaschine. »Ich bin viel lieber hier in der Backstube bei dir, Vater.«
    Der Vater lächelte ihn an. »Das kannst du machen, wenn du mal einen freien Tag hast«, erwiderte er. »Aber bring erst einmal die Schule hinter dich. Mit dem Bakk in der Tasche stehen dir so viele Möglichkeiten offen. Was habt ihr denn heute gemacht?«
    »Eine Passage von Victor Hugo besprochen«, erwiderte Louis. »Aus ›Die Elenden‹.«
    »Da habt ihr ja einen ganz fortschrittlichen Lehrer«, gab sein Vater zurück. »Ich dachte, so etwas liest man nicht in der Schule.«
    »Hast du den Roman denn auch schon gelesen?«
    »Sicher«, sagte sein Vater. Sie hatten die Arbeit an der Bröselmaschine beendet und machten sich jetzt
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